Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Gewaltvorwürfe nach Polizeieinsatz in Lützerath "In keiner Weise professionell": Neubauer legt sich mit Reul an
Der Innenminister von NRW stuft den Polizeieinsatz in Lützerath als "hochprofessionell" ein. Klimaaktivistin Luisa Neubauer zeigt sich schockiert.
Seit Tagen sorgt der Klimaprotest in Lützerath und dessen Räumung für Schlagzeilen. Mehrfach soll es zu Zusammenstößen und Gewalt zwischen der Polizei und den Demonstranten gekommen sein. Darüber wurde am Sonntagabend auch bei "Anne Will" diskutiert.
Dass es unterschiedliche Einschätzungen der Geschehnisse gibt, zeigten bereits die einleitenden Statements von Nordrhein-Westfalens Innenminister Herbert Reul und der deutschen Klimaaktivistin Luisa Neubauer deutlich.
Die Gäste
- Ricarda Lang (Bündnis 90/Die Grünen): Bundesvorsitzende
- Herbert Reul (CDU): Innenminister in Nordrhein-Westfalen
- Michael Hüther: Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, Köln
- Luisa Neubauer: "Fridays for Future"-Aktivistin
- Mojib Latif: Klimaforscher
- Greta Thunberg: Klimaaktivistin
Reul: Dann flogen die Molotowcocktails
CDU-Mann Reul hatte für die Eskalation in Lützerath eine einfache Erklärung: "Es haben sich Menschen plötzlich nicht mehr an die Absprachen gehalten. Dann ist das passiert, was die Polizei immer gesagt hat: Wir haben einen Auftrag dafür zu sorgen, dass hier keiner mehr reindarf. Diese Damen und Herren haben sich dann danach nicht mehr gerichtet. Irgendwann wurde es immer enger. Dann flogen Steine, Molotowcocktails und Raketen", so Reul.
Embed
Sollte es ein Fehlverhalten der Polizei gegeben haben, werde dies untersucht und geahndet werden, räumte er ein – gegen einige Polizisten wurde bereits Anzeige erhoben. Dieselbe gesetzliche Konsequenz erwarte er sich aber auch gegenüber den Klimaaktivisten.
Luisa Neubauer: "Das sah nicht professionell aus"
Klimaaktivistin Luisa Neubauer verteidigte indes das Verhalten der Demonstranten. "Es war vielleicht nicht legal, aber in den Augen der Demonstranten legitim", so Neubauer. "Aber nicht in Ordnung", entgegnete Will.
Neubauer zeigte sich davon unbeirrt und machte der Polizei Vorwürfe: "Da sind Polizisten, Einsatzkräfte schreiend gegen Demonstranten gerannt". Sie habe zwar selbst nicht gesehen, dass Polizisten Demonstranten verprügelt hätten – Neubauer vertraue aber den Berichten der Augenzeugen, meinte sie. "Was ich gesehen habe, ist ein Einsatz, der in keinem Verhältnis zu dem stand, was seitens friedlicher Demonstranten passierte. Das sah in keiner Weise professionell aus", so Neubauer.
Dem widersprach Reul vehement: "Das war hochprofessionell und sehr gut", so der Politiker, der lapidar anmerkte: "Wir werden sehen, wer, wo, wie viele verletzt hat". Man gehe von 100 verletzten Polizisten aus — darunter fallen aber auch Verletzungen, die nichts mit direkten Auseinandersetzungen zu tun hätten. Reul versprach: "Ich werde mich um jeden Fall kümmern."
Neubauer konterte: "Ich finde es absurd und schockierend, dass Sie, Herr Reul, diesen Polizeieinsatz als professionell einstufen. Was wir sehen, was wir erlebt haben, was Videos zeigen, spricht eine ganz andere Sprache. Das ist aus dem Ruder gelaufen, ganz klar." Man habe seitens der Einsatzkräfte einen Panikmodus erlebt, der auch einen Panikmodus bei Aktivisten ausgelöst hatte, so die Aktivistin. Von der Anwendung von Gewalt distanzierte sie sich: "Die Tatsache, dass wir zu friedlichem Protest — und zu nichts anderem – aufrufen, habe ich immer wieder gesagt". Es gelte, keine Gewalt gegen Menschen anzuwenden: "Das ist selbstverständlich".
Der Hintergrund
Am Rande der Großdemo hatten laut Polizei rund 1.000 großenteils vermummte "Störer" versucht, auf das abgesperrte Gelände von Lützerath vorzudringen. Die Polizei setzte Wasserwerfer, Schlagstöcke und Pfefferspray gegen sie ein. Zwölf Personen wurden fest- oder in Gewahrsam genommen. Nach Polizeiangaben wurden neun Aktivisten mit Rettungswagen ins Krankenhaus gebracht. Eine Sprecherin des Sanitätsdienstes der Demonstranten hatte aber gesagt, es sei eine "hohe zweistellige bis dreistellige Zahl" von Teilnehmern verletzt worden.
Nach Einschätzung der Gewerkschaft der Polizei (GdP) ist die Räumung weitgehend so gelaufen wie erwartet. Andreas Roßkopf, Vorsitzender des GdP-Bezirks Bundespolizei, sagte der Nachrichtenagentur dpa, es sei für ihn unverständlich, dass es friedliche Teilnehmer nicht geschafft hätten, "sich von den gewalttätigen Teilnehmern zu distanzieren". Dies habe es den Polizisten und Polizistinnen erschwert, "hier angemessen einzuschreiten". Insgesamt hätten die Einsatzkräfte mit Besonnenheit und "dem nötigen Augenmaß" agiert.
Radikalisiert sich die Klimabewegung?
Radikalisiert sich die Klimabewegung hier, wollte Will von dem Klimaforscher Mojib Latif wissen. "Das kann man nicht pauschalisieren. Die Klimabewegung ist eine sehr heterogene Gruppe", antwortete dieser — und merkte an, dass die Diskussion an der Realität vorbeigehe. "Was mich so stört ist, dass das eigentliche Thema auf der Strecke bleibt. Was ist die Rolle Deutschlands im internationalen Klimaschutz?", so Latif, der auch die dringliche Notwendigkeit einer internationalen Zusammenarbeit betonte: "Das Klimaproblem ist ein globales Problem. Das lösen alle Länder gemeinsam oder gar nicht. Das müssen wir uns immer wieder klarmachen.
Ricarda Lang: "Wir sehen eine Partei, die mit sich hadert"
Die Bundesvorsitzende der Grünen, Ricarda Lang, war an diesem Abend gewissermaßen in einem Zwiespalt. Einerseits stehen die Grünen schließlich zum großen Teil hinter den Aktivisten. Andererseits war es auch die Partei – allen voran Robert Habeck – der den Lützerath-Kompromiss mitgetragen hatte.
Ob sie das bereue, fragte Will. "Ich würde es bereuen, wenn ich nichts getan hätte. Wenn wir bis 2038 weiter Kohle verbrennen würden", betonte Lang die Leistungen ihrer Partei. "Trotzdem sehen wir eine Partei, die mit sich hadert, mit sich ringt. Weil wir das Thema des Klimaschutzes so ernst nehmen. Weil wir es uns natürlich nicht leicht machen. Wir wären die Ersten, die sagen, es ist falsch, dass dieses Jahr noch Kohle verbrannt wird". Der Kompromiss hat aber auch einen konkreten Grund: "Wir brauchen aufgrund von Wladimir Putins Angriffskrieg auf die Ukraine mehr Kohle, als wir es geplant hatten. Das ist nicht gut, aber notwendig", so die Politikerin.
"Lützerath hat das Potenzial, die Grünen unter Stress zu setzen", meinte der Direktor des Instituts der deutschen Wirtschaft, Michael Hüther. Allerdings räumte er ein: "Dieses Lützerath ist doch völlig irrelevant. Es ist das, was klimapolitisch in den nächsten Jahren passiert, völlig irrelevant".
Greta Thunberg: " Was in Deutschland passiert, bleibt nicht in Deutschland"
Per Einspieler meldete sich auch Klimaaktivistin Greta Thunberg zu Wort, die Will am Vortag interviewt hatte. Im Gespräch kritisierte sie sowohl Deutschland als auch die Grünen scharf. "Deutschland ist historisch gesehen einer der größten Umweltverschmutzer weltweit. Was in Deutschland passiert, bleibt nicht in Deutschland", so Thunberg.
Als gelungenen Kompromiss sieht die Aktivistin Lützerath mitnichten: "Von einer Außenperspektive erscheint es seltsam, dass wir ein Dorf opfern, um die anderen zu retten. Das macht keinen Sinn. Besonders wenn man an die Mengen CO2 denkt, die ausgestoßen werden, wenn man diese Pläne umsetzt".
Für die Grünen hatte sie wenig Sympathie übrig: "Ich weiß nicht, wie die Diskussionen verliefen, aber es ist sehr heuchlerisch, was gerade passiert. Erst an den Demos für Lützerath teilnehmen und dann Lützerath opfern." Auf Wills Einwand, man habe es hier mit einer akuten Versorgungskrise zu tun, konterte Thunberg: "Wollen Sie sagen, dass diese Kohlemine sofort Energie liefert?"
- "Anne Will" vom 15. Januar
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa