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Klimafolgen der Nord-Stream-Lecks: "Wir haben hier ein gigantisches Risiko"


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Klimafolgen der Pipeline-Lecks
"Wir haben hier ein gigantisches Risiko"

  • Theresa Crysmann
InterviewVon Theresa Crysmann

Aktualisiert am 30.09.2022Lesedauer: 5 Min.
Eine Aufnahme der schwedischen Küstenwache zeigt einen Gassprudel in der Ostsee: Inzwischen lecken die Pipelines Nord Stream 1 und Nord Stream 2 an vier Stellen große Mengen Methan.Vergrößern des Bildes
Eine Aufnahme der schwedischen Küstenwache zeigt einen Gassprudel in der Ostsee: Inzwischen lecken die Pipelines Nord Stream 1 und Nord Stream 2 an vier Stellen große Mengen Methan. (Quelle: Cover Images/ IMAGO)

Noch ist unklar, wie es an mehreren Pipeline-Strängen in der Ostsee zu Leckagen kommen konnte. Genauso dringend ist jedoch die Frage nach den Konsequenzen.

Erst eins, dann zwei und drei, jetzt vier: Die Suche nach den Ursachen für die Lecks in den Röhren der Gaspipelines Nord Stream 1 und 2 laufen auf Hochtouren. Seit Montag strömen vor der Ostseeinsel Bornholm große Mengen Erdgas aus 70 bis 90 Metern Tiefe an die Wasseroberfläche.

Dass hier etwas nicht stimmt, zeigt sich am stärksten an den Sprudeln, die das Gas an der Wasseroberfläche erzeugt. Die größten Schäden finden sich allerdings weder an den Pipelines noch im Meer.

Der Bundesgeschäftsführer der Deutschen Umwelthilfe (DUH), Sascha Müller-Kraenner, erklärt im Interview bei t-online, weshalb die undichten Pipelines ein Super-GAU für das Klima sind und warum die Bundesregierung sich im Zweifel dem russischen Gaskonzern Gazprom widersetzen muss.

t-online: Herr Müller-Kraenner, aus den Pipelines tritt Erdgas aus und gelangt an der Wasseroberfläche in die Atmosphäre. Wieso ist das so schlimm?

Sascha Müller-Kraenner: Erdgas besteht zum allergrößten Teil aus Methan. Deshalb sind diese Leckagen erst so dramatisch. Methan ist eines der gefährlichsten Treibhausgase – es hat eine Wärmewirkung, die 84-mal so stark ist wie jene von CO2. Wir haben hier also ein gigantisches Risiko für das Klima.

Die Sprudel zeigen, dass erhebliche Mengen Gas austreten. Welche Klimawirkung befürchten Sie?

Wir können unsere Berechnungen ausschließlich auf die Angaben des Betreibers stützen. Von Gazprom und den zuständigen Tochterunternehmen gibt es allerdings nur bruchstückhafte Auskünfte. Mit Blick auf das Gesamtvolumen in den betroffenen Strängen dürfte der Treibhausgaseffekt dem größten Braunkohlekraftwerk Europas entsprechen. In CO2 umgerechnet sind wir bei 28,5 Millionen CO2-Äquivalenten, wenn sich alles entleert. Im Vergleich zu kleineren Rissen, die es bei Gaspipelines immer mal wieder gibt, haben wir aber bereits jetzt ein Superemitter-Event der ersten Kategorie.

Das wäre mehr als die Hälfte dessen, was beispielsweise Dänemark in einem Jahr emittiert. Wie schnell entleeren sich die Pipelines denn?

Das wissen wir nicht. Bisher hat noch niemand genau untersucht, wie groß die Lecks tatsächlich sind. Davon hängt die Austrittsmenge ganz entscheidend ab. Aktuell liegt nur die Information vor, dass es sich wohl um meterlange Risse handelt. Heute Früh wurde nun ein viertes Leck entdeckt, das dazu führt, dass das Gas noch schneller austritt.

Sascha_Müller-Kraenner
(Quelle: Stefan Wieland/ DUH)

Sascha Müller-Kraenner

Seit 2015 leitet Müller-Kraenner die Deutsche Umwelthilfe als Bundesgeschäftsführer gemeinsam mit Jürgen Resch. Zuvor war der Experte für Naturschutz, Energie- und Klimapolitik unter anderem für den Deutschen Naturschutzring, die Heinrich-Böll-Stiftung sowie The Nature Conservancy tätig. Er ist Mitbegründer des Umweltforschungsinstituts Ecologic Institute.

Das vierte Leck befindet sich wohl an einer Röhre von Nord Stream 2. Obwohl diese Pipeline nie in Betrieb genommen wurde, ist sie voll mit Gas. Wieso?

Es gab für Nord Stream 2 zwar nie eine finale Genehmigung aus Deutschland, aber die Betreiber haben laut eigenen Angaben dennoch Gas eingefüllt. Damals hieß es, es gebe dafür technische Gründe. Ich vermute aber, die Nord Stream 2 AG hat darauf spekuliert, dass der Druck für eine Inbetriebnahme der Pipeline letztlich so groß werden dürfte, dass man sie dann nur noch aufdrehen muss. Das war ein schwerwiegender Fehler, ohne den wir diese Leckagen jetzt nicht hätten. Aus beiden Pipelines muss das Gas jetzt dringend abgepumpt werden.

Wie soll das funktionieren?

Auf deutscher Seite kommen die Pipelines in Lubmin an – dort muss jetzt aufgedreht werden. Es gibt ohnehin einen gewissen Druck in den Leitungen und ich gehe davon aus, dass es zusätzliche Pumpanlagen gibt, mit denen sich die Röhren auch für Reinigungs- und Reparaturarbeiten schnell entleeren lassen würden. Über Kompressoren kann das Gas dann ins deutsche Netz überführt werden. Jede Tonne Treibhausgase, die wir hier vermeiden, indem wir das Gas ins Gasnetz holen, statt es in die Atmosphäre entweichen zu lassen, ist ein Gewinn fürs Klima.

Das Gas gehört allerdings dem russischen Unternehmen Gazprom. Ohne dessen Erlaubnis dürfte ein sofortiges Abpumpen schwierig werden.

Im Idealfall verhält sich Gazprom ausnahmsweise einmal verantwortungsvoll und pumpt zumindest auf russischer Seite ab. Wenn für das Abpumpen in Deutschland keine Absprachen mit dem Unternehmen möglich sind, weil im Zweifel die entsprechenden Kommunikationskanäle nicht mehr existieren, müssen die Behörden trotzdem handeln. Danach kann man dann versuchen, für den Alleingang eine Lösung zu finden.

Das heißt, die Bundesregierung soll in Lubmin auch ohne Genehmigung von Gazprom die Ventile aufdrehen?

Das Gas gehört den Deutschen natürlich nicht, aber es geht hier um eine absolute Notfallsituation. Es muss akuter Schaden von Mensch und Natur abgewendet werden. Man darf auch nicht vergessen, dass das austretende Gas zum Beispiel auch die Schifffahrt gefährdet. An der Meeresoberfläche kann es sich in Kontakt mit Sauerstoff entzünden. Deshalb haben die dänischen Behörden ja große Teile der Ostsee für den Schiffsverkehr gesperrt. Dazu kommen die Auswirkungen auf die Atmosphäre. Es ist Gefahr im Verzug.

Teils wird diskutiert, ob sich das Gas auch an der Wasseroberfläche verbrennen ließe oder man die Risse stopfen könnte. Wie sinnvoll sind solche Ansätze?

Da steigt keine große Methanblase hoch, in die man ein Streichholz reinwerfen könnte wie in einen Ölteppich. Methan ist ein Gas, das sich sehr schnell verflüchtigt. Das dürfte daher wohl nicht funktionieren. Ob und wie sich die Lecks reparieren lassen – auch provisorisch –, kann ich nicht beurteilen. Das liegt vor allem daran, dass bisher keine Details zum Ausmaß des Schadens bekannt sind. Dazu müssten wohl erst Marinetaucher die Risse ausmessen. Gleichzeitig herrscht dort unten im Meer ein hoher Druck und möglicherweise besteht weiterhin Explosionsgefahr rund um die Leckagen. Es bleibt im Grunde nur die Option, das Gas jetzt abzupumpen. So viel und so schnell wie möglich.

Wie viel Zeit bleibt dafür noch?

Ich habe eine Schätzung gelesen, die besagt, es wird mindestens eine Woche dauern, bis die Pipelines leer sind. Zu Deutsch: Die Uhr tickt. Jeder Tag, an dem wir nicht mit dem Abpumpen beginnen, ist ein verlorener Tag für das Klima.

Welche Risiken birgt das ausströmende Gas für Fische und andere Meereslebewesen?

Methan ist schwer wasserlöslich und an sich erstmal nicht giftig. Das heißt, es besteht keine Vergiftungsgefahr für die Meeresumwelt. Aber beispielsweise durch die Erstickungswirkung dieses Gases kann es im unmittelbaren Umfeld der Leckagen zu Beeinträchtigungen kommen. Die wirklich enormen Schäden entstehen aber oben in der Atmosphäre.

Welche Konsequenz ziehen Sie aus diesem Pipeline-Drama?

Wir haben als Deutsche Umwelthilfe immer gesagt, dass diese großen fossilen Infrastrukturprojekte nicht in die Zeit passen. Abgesehen davon, dass diese Pipelines uns in eine tiefe Abhängigkeit von russischem Gas gestürzt haben, ist dieses Superemitter-Event jetzt ein akutes Warnsignal: Gaspipelines bergen Sicherheitsrisiken, die man sich bisher nicht vorstellen wollte, die aber angesichts des Krieges in Europa real sind. Das Beste wäre, die Pipelines nicht nur temporär stillzulegen, sondern zurückzubauen und konsequent auf erneuerbare Energien zu setzen.

Herr Müller-Kraenner, besten Dank für das Gespräch.

Verwendete Quellen
  • Telefoninterview mit Sascha Müller-Kraenner
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