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Sarah Wiener über Lebensmittelindustrie: "Wir werden getäuscht"


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Promi-Köchin schlägt Alarm
"Wir werden getäuscht und der Geschmack verschlammt"


Aktualisiert am 22.04.2023Lesedauer: 6 Min.
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Waren auf dem Band einer Supermarktkasse: Was landet da täglich in unseren Einkaufswagen? (Quelle: Sven Hoppe/dpa)
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Experten warnen: Wir essen uns krank. Im Interview mit t-online erklärt Promi-Köchin Sarah Wiener, warum sie so wütend auf die Lebensmittelindustrie ist.

Gesunde Ernährung ist der Grundstock für Wohlbefinden und Fitness. Umgekehrt gesagt: Falsche Ernährung kann uns krank machen. In Deutschland nehmen ernährungsbedingte Krankheiten zu.

Nach Zahlen des Bundesministeriums für Bildung und Forschung (BMBF) sind hierzulande fast zwei Drittel der Männer und nahezu jede zweite Frau übergewichtig. "Rund zwei Millionen Kinder haben schon etliche Pfunde mehr, als gut für sie ist. Und auch Lebensmittelallergien, Stoffwechselerkrankungen und andere chronische Erkrankungen werden durch unsere Ernährung direkt oder indirekt beeinflusst", so das BMBF.

Parallel dazu ist ein Trend zu beobachten: Der Umsatz der Herstellung von Fertiggerichten in Deutschland stieg 2022 im Vergleich zu 2021 um 1,1 Milliarden Euro (+26,41 Prozent). "Mit 5,1 Milliarden Euro erreichte der Umsatz damit den höchsten Wert im beobachteten Zeitraum" – so das Statistikportal "Statista".

Was landet da jeden Tag in unseren Einkaufwagen? Und welche Wirkung hat der Konsum bestimmter Lebensmittel auf unseren Körper? t-online fragte die Promi-Köchin und Europaabgeordnete Sarah Wiener nach dem, was in unserer Nahrungsmittelproduktion schiefläuft und was sie dabei so wütend macht.

Frau Wiener, Sie haben keine hohe Meinung von unserer Lebensmittelindustrie. Was bemängeln Sie?

Sarah Wiener: Ich bemängele die starke Einschränkung der Auswahl an verschiedenen Sorten und Rassen. Ich bemängele die Monopolstellung einiger weniger Großkonzerne und, dass der Profit über Geschmack und die Gesundheit gestellt wird. Und ich bemängele, dass wir dem Einzelnen eine größere Priorität einräumen als dem Ganzen.

Das Gute steht immer in Konkurrenz zum Billigsten. Das Billigste ist aber zu oft Feind von Nachhaltigkeit, Geschmack, Schönheit und Gerechtigkeit. Unser Ernährungssystem beruht auf Uniformität, Reproduzierbarkeit und Lagerfähigkeit.

Sarah Wiener
Sarah Wiener (Quelle: Christian Kaufmann)

Sarah Wiener wurde vor allem in zahlreichen Formaten als TV-Köchin bekannt. Die in Deutschland lebende Österreicherin macht sich stark für gesunde Ernährung und betätigt sich als Umweltaktivistin. 2019 wurde sie als Parteilose für die österreichischen Grünen ins Europaparlament gewählt.

Nun setzen in unserer hektischen Zeit viele Menschen auf Fertigprodukte. Den meisten ist klar: Die sind nicht gesund …

Die permanente Zunahme von chronisch entzündlichen Krankheiten, von Fettleibigkeit und Diabetes Typ 2 hängt direkt mit unserem industrialisierten Ernährungsverhalten zusammen. Unser körpereigenes Ökosystem, das Darmmikrobiom, wird nicht nur durch Stress, sondern auch durch hochverarbeitete Nahrungsmittel, Pestizidrückstände und Zusatzstoffe beeinflusst, die unser Organismus im Laufe seiner Evolution nie kennengelernt hat und der deswegen auch Schwierigkeiten damit hat. Fertigprodukte und diese Art der industriell erzeugten Nahrung haben also das Potenzial, uns krankzumachen.

Das Paradox ist ja wohl auch: In der Geschichte gab es noch nie eine solche Wohlstandsgesellschaft, wie wir sie in den vergangenen Jahrzehnten erleben, aber: Was unsere Ernährung angeht, verarmen wir eigentlich.

Das ist das Problem der Monopolisierung, der Patentierung und der Vereinheitlichung. In den letzten fünfzig bis hundert Jahren haben wir laut UN-Schätzungen 90 Prozent unserer Arten- und Samenvielfalt verloren.

Das ist genau der breite Genpool, den wir dringend benötigen, um unser Ernährungssystem robust und krisenfest zu machen. Wir wissen, dass der Klimawandel jetzt schon Auswirkungen auf die Landwirtschaft hat. Eine größere Auswahl an – auch lokal angepassten – Sorten und Rassen erleichtert es uns, darauf zu reagieren und macht uns eben krisenfest.

Ihr Vorwurf ist, dass die Riesen der Branche im Grunde zu einer Vereinheitlichung des Geschmacks beitragen.

Der Großteil unserer Ernährung besteht aus wenigen weltweit gehandelten Nahrungsmitteln. Der Großteil des heutigen Lebensmittelbedarfs wird von zwölf Pflanzensorten und fünf Tierrassen gedeckt. Da geht es um Weizen, Mais, Reis und Zuckerrüben.

Um das ewig Gleiche anbieten zu können, eine lange Haltbarkeit und Reproduzierbarkeit zu erreichen, hat man Abstriche beim Geschmack und bei den Inhaltsstoffen gemacht. Alles, was besonders schmeckt, hat den industriellen Prozess nicht überlebt.

Alles, was köstlich ist, aber sehr fragil und schwierig zu transportieren ist, bekommt man nicht mehr. Die Industrie bastelt mittels Chemie auf sehr billige, einfache Weise an komplexen Aromen herum und peppt damit den Einheitsbrei auf, den wir ohne diese künstlichen Zusatzstoffe, ohne Zucker und Salz nicht anrühren würden. Wir werden getäuscht und unser Geschmack verschlammt.

Ist es das, was Sie mit dem Begriff "billige Kalorien" umreißen?

Ja, es macht einfach einen großen Unterschied, ob wir auf diese Art erzeugte billige Kalorien zu uns nehmen oder lebendige, vielfältige Lebensmittel mit unterschiedlichsten Nährstoffen. In unserem Körper laufen Tausende Prozesse ab, von denen sehr viele nicht einmal annähernd entschlüsselt sind. Wir wissen aber, je abwechslungsreicher, frischer und unverarbeiteter unser Essen ist, desto gesünder ist es für unseren Körper.

Den Lebensmittelherstellern ist ja nicht an einer gesunden Ernährung ihrer Kunden gelegen, sondern am Profit. Welche Folgen hat das?

Wenn der monetäre Profit die Messlatte für Erfolg ist, dann ist klar, dass man immer billiger produzieren will und muss. Das führt aber unwillkürlich in eine qualitative Abwärtsspirale. Diese billigen Nahrungsmittel kosten uns nicht nur eine Menge Freude und Genuss, sondern auch unsere lebensfähige Zukunft.

Wir haben schon jetzt Probleme mit belastetem Trinkwasser, mit dem Bienensterben, unfruchtbaren Böden, Nährstoffverlusten und den Folgen der industriellen Massentierhaltung. Jedes Glied in der Kette ist ein Desaster.

Muss gutes Essen denn teuer sein? Oder anders gefragt: Ist eine gesunde Ernährung – jetzt auch in Zeiten der Inflation – ein Privileg der Reichen?

Es ist unsere politische und gesellschaftliche Aufgabe, dafür zu sorgen, dass wir alle gut, nachhaltig und gesund essen können. Es sind übrigens nicht die Reichen, die am besten essen. Es sind die Gebildeten. Gutes gesundes Essen muss für alle leistbar sein, es braucht faire, angemessene Preise. Denn nichts, was wir besitzen, ist kostbarer als unser Körper.

Sie fordern ein Werbeverbot für ungesunde Lebensmittel für Kinder. Warum? Bringt das wirklich etwas?

Wenn wir in andere Länder schauen, die dieses Verbot schon haben, sieht man: Ja, das bringt was. Wieso sollte man aber überhaupt für schädliche Produkte gerade bei Kindern Werbung machen dürfen? Was ist der Sinn dahinter? Offensichtlich soll etwas konsumiert werden, was Kinder sonst nicht (in dem Ausmaß) essen würden. Kinder werden sehr leicht manipuliert und verführt. Sie benötigen unseren Schutz.

Sie geben den allgemeinen Ratschlag, nichts zu kaufen, für das Werbung gemacht wird. Wie meinen Sie das? Was ist da das Problem?

Wir schwelgen im Überkonsum und geben Geld für unnütze, ungesunde Produkte aus, die – neben anderen Problemen – unserer Gesundheit schaden. TV-Werbespots mit Wiedererkennungswert können sich vor allem große Industrieunternehmen leisten, die wiederum normierte, hochverarbeitete Produkte verkaufen. Ich plädiere: Kaufen Sie auf dem Wochenmarkt, setzen Sie auf Regionalität.

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In Großbritannien wurde eine Steuer auf zuckerhaltige Getränke verhängt. Das scheint Erfolg zu haben. Wäre das nicht auch eine Option für uns?

Die Industrie sollte für die Gesundheitsschäden aufkommen, die sie anrichtet. Ob es nun die Milliarden für die Reinigung des Trinkwassers von Pestiziden sind oder Pestizidvergiftungen und Folgeschäden bei Landwirten oder Diabetes Typ 2, Karies bei Kindern oder Kreidezähne … um nur einiges zu nennen. Wer Schädliches herstellen will, sollte dafür bezahlen, um die Folgen abzumildern.

Thilo Bode vertritt in seinem Buch die Theorie, dass der Verbraucher die Qualität von Lebensmitteln gar nicht mehr beurteilen kann, weil sie zu undurchsichtig geworden ist. Das ist auch Ihre These, oder? Wer kann denn dann diesen Dschungel lichten?

Dem stimme ich zu. Unser Geschmack ist manipuliert, nivelliert und verroht. Alles muss süß oder salzig schmecken. Wir werden leider schlecht fremdgefüttert und die meisten schlucken leider alles, was man ihnen serviert.

Abschließend: Was ist Ihr Rat an die Verbraucher?

Lernen Sie kochen mit frischen Grundnahrungsmitteln. Selber kochen mit frischen Zutaten, ist nicht nur Genuss und Freude, sondern auch gesund. Ein Sternchen gibt es für Lebensmittel aus ökologischem Anbau.

Essen Sie kein Produkt, bei dem Sie das Etikett nicht verstehen. Was ist modifizierte Stärke, Trockenhuhn und E304?

Dein Körper ist dein Tempel! Mach ihn nicht zum Endlager. Und: Bitte alles aufessen, von kleingehackten Petersilienstengeln und Brokkolistrünken, über Schweinefüßchen bis zu Äpfeln, die eine Delle haben. Das schont nicht nur den eigenen Geldbeutel, sondern fördert die Kreativität und bringt neue Geschmackseindrücke.

Frau Wiener, wir danken Ihnen für das Gespräch!

Transparenzhinweis
  • Die Informationen ersetzen keine ärztliche Beratung und dürfen daher nicht zur Selbsttherapie verwendet werden.
Verwendete Quellen
  • Interview mit Sarah Wiener
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