Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Wahlkampf in Schnipseln Wer laut und dreist ist, hat Erfolg
RTL lädt nun alle vier "Kanzlerkandidaten" zum Duell. Das kann man gut finden, das kann man schlecht finden. Was man dort aller Voraussicht nach nicht finden wird: Antworten auf die drängenden Fragen.
Alice Weidel will Kanzlerin werden. Das ist die logische Schlussfolgerung, die sich aus einer Kanzlerkandidatur ergibt. Eine so simple Schlussfolgerung, dass man von einem "no brainer" sprechen könnte: Es ist also selbstverständlich.
Alice Weidel weiß aber auch, dass sie nicht Kanzlerin werden wird. Nicht 2025. Niemand will mit der in Teilen rechtsextremen AfD koalieren. Auch Friedrich Merz nicht. Darauf würde ich mit sehr hohem Einsatz wetten. Merz’ strategisches Geschick, seine Impulskontrolle und seine Fähigkeit, die Dinge vom Ende her zu denken wie Angela Merkel, lassen zwar Luft nach oben. Dass jetzt aber Schwarz-Blau droht, wie es Rot-Grün mit der naturgemäßen Wahlkampf-Verve verbreiten – das halte ich auch für Wahlkampf-Verve.
Zur Person
Die Fernsehjournalistin Nicole Diekmann kennt man als seriöse Politikberichterstatterin. Ganz anders, nämlich schlagfertig und lustig, erlebt man sie auf X – wo sie über 120.000 Fans hat. Dort filetiert sie politische und gesellschaftliche Aufreger rund ums Internet. Ihr Buch "Die Shitstorm-Republik" ist überall erhältlich. Bei t-online schreibt sie jeden Mittwoch die Kolumne "Im Netz".
Was Alice Weidel wirklich will, ist schwer zu sagen. Erst will sie alle Windräder abreißen, dann doch nicht alle, nun doch wieder alle. Fragen von Journalisten nach konkreten Rechnungen will sie nicht beantworten, kann sie anscheinend nicht. Dafür behauptet sie dann einfach, die von Instituten vorgelegten Zahlen etwa zu den Auswirkungen der AfD-Ideen für Deutschland seien politisch gesteuert.
Eine Sache aber ist klar: Alice Weidel will Öffentlichkeit. Und eine Kanzlerkandidatur sichert diese Öffentlichkeit. Wer kandidiert, absolviert Wahlkampfauftritte, über die berichtet wird. Kandidaten werden interviewt. Und sie können argumentieren: "Wenn die anderen Kandidaten in Sendungen eingeladen werden, muss ich auch eingeladen werden!" Mit diesem Verweis auf die Chancengleichheit setzt sich auch die Vorsitzende einer Partei durch, die Chancengleichheit in vielen gesellschaftlichen Bereichen radikal abschaffen will. Alice Weidel bei "Miosga", Alice Weidel im "heute-Journal", Alice Weidel nun auch mit Merz, Olaf Scholz und Robert Habeck bei RTL – es hat geklappt. Diese politisch gesteuerte Idee mit dem Namen "Wer kandidiert, kommt vor" ist voll aufgegangen. Wer laut ist und dreist und draufhaut, hat Erfolg.
Die Debatte war kein Juwel
Das gilt auch für RTL. Denn Weidel sichert Quote. Das tut sie, weil sie ein Verlangen erfüllt, das wir alle in uns tragen und das in den vergangenen Jahren durch Social Media nicht nur befeuert, sondern auch salonfähig geworden ist: Schaulust. Nicht zu verwechseln mit Politikinteresse.
Vergangenen Freitag, als der oben schon erwähnte CDU-Kanzlerkandidat Friedrich Merz ein Tabu gebrochen hat und die AfD als Mehrheitsbeschafferin akzeptieren wollte, übertrug Phoenix die dazugehörige Debatte aus dem Bundestag. Phoenix ist ein Juwel. Die Debatte war es nicht. Der eine (Thorsten Frei von der CDU) bezichtigte die andere (Annalena Baerbock, Grüne) nicht weniger als der Lüge. Die revanchierte sich mit der peinlich unterkomplexen Aussage, das würden Männer immer tun, wenn sie nicht mehr weiterwüssten. Nur zwei Beispiele von vielen.
Die Debatte wurde geschaut, und zwar so stark wie kaum eine der vergangenen Jahre. Immerhin, freuten sich Leute auf X, herrsche auch in Zeiten des Dammbruchs keine Politikverdrossenheit.
Das ist was für Schaulustige
Ich halte das für einen Fehlschluss. Ganz bestimmt saßen da auch Politikinteressierte vor dem Fernseher oder Tablet. Mit absoluter Sicherheit aber auch Schaulustige. Leute, die wollen, dass aufeinander draufgehauen wird. Die denken, so muss das sein. Die finden: So sollte Politik sein. Dass einer stärker ist als der andere, lauter, energischer, und dann hat der auch recht und dann hat der gewonnen und dann wird das so gemacht. Basta!
Leute, die Tag für Tag in den sozialen Netzwerken Ausschnitte aus Talkshows sehen. Die denjenigen bejubeln, der den Ausschnitt gepostet hat. Da sitzt zum Beispiel der FDP-Fraktionschef Christian Dürr bei Markus Lanz und sagt ein paar Dinge zum Verbrennermotor. Zu Technologieoffenheit, zu Wasserstoff, zur grünen Blockadepolitik, dies, das – haben wir alles sehr oft gehört in den Ampeljahren. Ein Experte, der neben Dürr sitzt, widerspricht. Oder, wie es derjenige formuliert, der diesen Ausschnitt gepostet hat: Der Experte sargt Dürr ein.
Kindlicher Blick auf Politik
Es gibt Tausende Ersteller solcher Posts. Sie sind nie, ich wiederhole, nie neutral. Die einen wollen quasi täglich angeblich den Beleg dafür erbracht haben, dass immer die Grünen gegrillt werden. Die anderen haben es als Kernaufgabe ihres Daseins entdeckt, 30-Sekunden-Clips aus ja auch in ihrer vollen Länge nie wirklich ergiebigen Talkshows als Beweis dafür zu liefern, dass die Unionsparteien unrecht haben. Immer. In allem. "Eingesargt", "gegrillt" – Dialog, Austausch, offene Fragen, Grautöne – das kommt in ihrer Welt nicht vor. Das zieht ja nicht.
Was für ein Unsinn. Was für eine kindische Sicht auf Politik, was für ein kindischer Wunsch an sie. Als wären die Fragen unserer Zeit, als wären die Fragen auch nur irgendeiner Zeit jemals so einfach zu beantworten gewesen, dass es so läuft.
Dieser Wunsch wird gespeist durch solche Schnipsel. Die von Leuten gepostet werden, die Beifall wollen. Die ganz dringend angewiesen sind auf dieses Glücksgefühl, das sich mit jedem Like bei uns einstellt. Solche Leute suggerieren: Es gibt Debatten, die enden, wenn endlich jemand das letzte Wort hat. Denn der hat automatisch recht. Und deshalb wird der Clip an dieser Stelle auch geschnitten. Damit Ihr es merkt und dann wisst, wem Ihr zu folgen habt.
Das ist fatal. Denn dieser Wunsch, wie Politik sein möge, wird in Teilen schon erfüllt. Und er bedeutet: Ihr müsst nicht mehr selbst nachschauen, nachdenken – ich sage Euch, wer recht hat. Das Internet macht uns alle nicht schlauer, sondern es macht uns bequemer. Es gaukelt vor, dass es Leute gibt, die uns völlig uneigennützig die Denkarbeit abnehmen.
Darauf würde ich wetten
Wer "Basta!" sagt, hat recht – das ist Quatsch. Wer "Basta!" sagt, hat die Aufmerksamkeit. Das stimmt. Er hat aber nicht automatisch die Mehrheit hinter sich. Friedrich Merz ist vergangene Woche damit gescheitert. Leute aus den eigenen Reihen und aus denen der FDP haben ihm die Gefolgschaft verweigert. So funktioniert Politik also nicht. Noch nicht. Gott sei Dank.
TV-Duelle oder -Quartelle aber sehr wohl. Wir werden es sehen, wir werden es hören. Auch darauf würde ich einen hohen Einsatz wetten. Leider.
- Eigene Meinung