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Debatte um Spenden: Politiker verlieren bei Kinderarmut-Problem


Meinung
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Debatte nach Spendengala
Die Empörung ist total billig

  • Nicole Diekmann
MeinungEine Kolumne von Nicole Diekmann

Aktualisiert am 11.12.2024 - 10:16 UhrLesedauer: 6 Min.
Franca Lehfeldt und Christian Lindner werden bald zum ersten Mal Eltern.Vergrößern des Bildes
Christian Lindner mit seiner Frau Franca Lehfeldt: Beide waren bei der "Ein Herz für Kinder"-Gala. (Quelle: Carsten Koall/ dpa)
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Nach einer Gala zugunsten von Kindern ist die Aufregung um die Spenden von Politikern groß. Doch die Debatte ist scheinheilig und plump. Denn die tatsächlichen Probleme von Kinderarmut liegen ganz woanders.

Ich sag', wie es ist: In Mathe war ich eine Niete. Bis zum Bruchrechnen hab' ich es noch irgendwie geschafft, die Fassade aufrechtzuerhalten – spätestens aber mit Geometrie und allerspätestens mit Kurvendiskussionen hielt ein Nachhilfelehrer Einzug in meinen Alltag. Das Gesicht meines Mathelehrers werde ich nie vergessen, als ich seine Hoffnung zunichtemachen musste, mich im mündlichen Abi nicht prüfen zu müssen. Nun gut. Die Götter hatten ein Einsehen, mit einer für meine Verhältnisse übermenschlichen Leistung von 3+ stellte ich alles bisher in meinem mathematischen Leben Dagewesene triumphal in den Schatten. Und fortan schaffte ich es einigermaßen erfolgreich und von Mathematik unbehelligt durchs Leben.

Nicole Diekmann
(Quelle: Reinaldo Coddou H.)

Zur Person

Die Fernsehjournalistin Nicole Diekmann kennt man als seriöse Politikberichterstatterin. Ganz anders, nämlich schlagfertig und lustig, erlebt man sie auf X – wo sie über 120.000 Fans hat. Dort filetiert sie politische und gesellschaftliche Aufreger rund ums Internet. Ihr Buch "Die Shitstorm-Republik" ist überall erhältlich. In ihrem Podcast "Hopeful News" spricht Diekmann jede Woche mit einem Gast über die schönen, hoffnungsvollen – einfach GUTEN Nachrichten. Bei t-online schreibt sie jeden Mittwoch die Kolumne "Im Netz".

Ich schreibe also in aller Bescheidenheit, potenziert mit einer großen Portion Demut: Den direkten Vergleich absoluter Zahlen miteinander, den kriege ich hin. Oder präziser: Sogar ich kriege ihn hin. Dass 2.000 Euro mehr sind als 500 Euro – glauben Sie mir, Sie können mich nachts um halb vier aus dem Tiefschlaf wecken: Das weiß ich. Ich weiß also, dass Christian Lindner auf der "Ein Herz für Kinder"-Gala mehr gespendet hat als SPD-Chef Lars Klingbeil. Und dass beide zusammen nicht mal einen Bruchteil dessen zu geben bereit waren, was Ex-Fußballprofi Toni Kroos locker gemacht hat: 100.000 Euro. Das erschließt sich mir auf Anhieb. Dafür muss ich nicht mal meine Taschenrechner-App bemühen.

Rein rechnerisch ist es also völlig richtig, wenn das halbe Empörungsinternet sich seit Tagen aufregt. Nur: Gleichzeitig ist es auch total billig.

Die drei hätten so oder so verloren

Erstens möchte ich mir gar nicht ausmalen, was hierzulande wieder los wäre, hätten Klingbeil, Lindner oder auch der CDU-Vorsitzende Friedrich Merz jeweils 100.000 Euro gespendet. Ach, was soll's: Ich mal's mir aus. Wir hätten hier eine Neiddebatte am Laufen. Rucki zucki würden wieder die Bilder von Lindners Hochzeit auf Sylt gezeigt, der Insel der Reichen (und der Nazi-Parolen-Gröler, aber dafür kann ja Lindner nichts). So schnell könnten wir gar nicht mit der Wimper zucken, da würde wieder auf die Armbanduhr von Sawsan Chebli hingewiesen: Die ehemalige Staatssekretärin im Auswärtigen Amt gehört der SPD an – und trägt eine Rolex. Das damalige Twitter drohte kurzzeitig zu explodieren, als das herauskam. Anscheinend sind Sozialdemokraten nur in Lumpen und mit gebrauchten Swatch-Uhren am Handgelenk glaubwürdig, ich weiß es nicht.

Und wer die Privatmaschine von Hobbypilot Friedrich Merz noch nicht ausgiebig bestaunen durfte – ich würde mein Hab und Gut darauf verwetten: Am Wochenende wären die Bilder wieder viral gegangen. Und bei allen Dreien hätte die Überschrift gelautet: "Schau an, die feinen Herrschaften wieder! Die da oben! Wer so viel spendet, muss ja Unsummen auf dem Konto haben! Von unseren Steuergeldern!" Da hätten die drei also verloren.

Lindner ahnte, dass es Ärger gibt

Haben sie jetzt aber auch. Klingbeil (wurde als Erster gefragt) spendete 500 Euro. Lindner 2.000 – und er schenkte der Öffentlichkeit noch einen Witz dazu: "Sie kennen ja meine berufliche Situation", sagte der kürzlich entlassene Finanzminister – seine Spendensumme wohl im vorauseilenden Gehorsam entschuldigend. Er ahnte da wahrscheinlich schon, dass es wieder Ärger geben würde.

Und selbst hier sind sich die Blödesten der Blöden nicht zu doof, sich aufzuregen: dass der Herr Lindner es wagt, auf einer Gala zugunsten armer Kinder Witze zu machen! Ich sage es mal so: Den Erlös, den eine Veranstaltung erzielt, auf der nicht gelacht wird – den möchte ich lieber nicht sehen. Der dürfte noch unter dem Durchschnitts-IQ derer liegen, die sich ob so eines Unsinns echauffieren.

Klingbeil spendet zu wenig, Lindner spendet auch zu wenig und ist obendrein nicht deprimiert genug – das sind zwei Drittel der Aufregung. Und dann kam auch noch Friedrich Merz. Knüpfte die Summe seiner Spende erst an die Umfragewerte seiner CDU – und versprach später auf X dann 4.000 Euro.

Nein, gemessen an ihren Einkünften, an ihrer Vorbildfunktion und am Zweck des Ganzen ist das nicht viel. Gemessen daran aber, über wen wir hier reden, ist die Debatte scheinheilig und ziemlich plump. Und müsste sich eigentlich doch um etwas gar nicht so viel tiefer Liegendes drehen.

Jedes fünfte Kind lebt in Armut

Kinderarmut ist schlimm. Kinderarmut in Deutschland ist eine Schande: Die Armutsquote von Kindern und Jugendlichen sei "mit 20,7 Prozent zwar immer noch skandalös hoch, doch ist sie gegenüber 2022 stark überproportional und sehr markant um 1,1 Prozentpunkte zurückgegangen", schreibt der Paritätische Gesamtverband. Ein sehr bitterer Jubel in Anbetracht der Tatsache, dass demnach jedes fünfte Kind beziehungsweise jeder fünfte Jugendliche in der drittgrößten Volkswirtschaft der Welt in Armut lebt.

Und es wird nicht viel besser, wendet man ein, dass Armut ja relativ ist. Dass sie sich am Lebensstandard des jeweiligen Landes bemisst. Erklären Sie das mal einem Kind, das die Spielzeuge der anderen sieht und selbst entbehren muss. Oder von den Urlauben der anderen hört. Oder davon, wie selbstverständlich es für andere Kinder ist, jeden Tag ein warmes Mittagessen zu bekommen. Und: Leben in Armut oder am Rande von Armut bedeutet nur auf den ersten Blick lediglich materielle Entbehrungen. Auch Hobbys, Freizeitaktivitäten fallen hinten runter. Kinobesuche, Karussell fahren auf dem Weihnachtsmarkt – das sind harte Entbehrungen in einer Gesellschaft, in der all das für sehr viele Kinder (Gott sei Dank) selbstverständlich ist.

Was aber hinzukommt, ist die Scham. Es ist peinlich, zu erklären, warum man nicht mit auf Klassenfahrt fährt. Oft lügen Kinder lieber, als ihre Eltern und sich zu entblößen. Und Lügen schaffen Distanz.

Ein Versagen der Politik

Armut macht einsam. Jedes fünfte Kind in Deutschland. Man kann das gar nicht oft genug sagen, damit die Dramatik vollends klar wird.

Das ist schlimm. Und das ist das Versagen von Politik. Nicht die Tatsache, dass drei Parteichefs am Wochenende nach Meinung einiger in einer Situation an Ansehen verloren haben, in der sie doch sowieso nur verlieren konnten, wenn wir mal ganz ehrlich sind.

Die Debatte müsste eine andere sein: Warum hat es diese Ampel nicht geschafft, sich auf eine Kindergrundsicherung zu einigen? Auf das größte sozialpolitische Projekt der drei Koalitionspartner, wie es nicht zuletzt die Grünen noch bejubelten – als sie dachten, ihre zuständige Ministerin würde es auch hinkriegen?

Lisa Paus war unvorbereitet und schlecht organisiert

Bei der Antwort, und da wird es jetzt zu kniffelig für die tumben Fans von einfachen Antworten, muss der Finger auf mehrere politisch Verantwortliche zeigen. Die einfache und deshalb so beliebte Erzählung lautet: Christian Lindner und seine FDP haben es verhindert. Lisa Paus, Familienministerin und Grüne, wollte sie ja. Das stimmt – aber Lisa Paus stolperte unvorbereitet und schlecht organisiert, dafür aber mit Maximalforderungen in die Verhandlungen in einer schon damals sehr schwierigen Koalition. Die des FD-Fantums unverdächtige "taz" fragte damals: "Wie kann eine Familienministerin ein Projekt, das Paus selbst das 'größte sozialpolitische Reformprojekt der Ampel' nennt und das seit seinen Anfängen vor fast zwei Jahrzehnten ihre Handschrift trägt, so planlos versenken?“

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Nächste Frage: Warum schafft es die einst von Angela Merkel ausgerufene Bildungsrepublik nicht, endlich eine zu werden? Warum glänzen 14 von 16 Kultusminister durch Abwesenheit auf einem Gipfel der Bundesbildungsministerin, die wegen des Föderalismus weitgehend machtlos ist? Warum schaffen die 16, die in der Kultusministerkonferenz zusammensitzen, es nicht, sich schleunigst zu reformieren? So wie es die Beratungsfirma Prognos in einem Gutachten empfiehlt, das sich stellenweise wie eine vernichtende Abrechnung mit einer ineffizienten und völlig über-bürokratisierten und vor Gremien platzenden Institution liest?

Es ist Zeit für eine Elternlobby

Warum macht keine der Parteien Wahlkampf mit dem Thema "Kinder", keine mit dem Thema "Bildung", keine mit dem Thema "Vereinbarkeit"? Warum organisieren Eltern sich nicht endlich, schließen sich zu der Lobby, die sie doch sind, zusammen, und werden laut? Warum gehen sie stattdessen am Wochenende in Schulen und überstreichen dort mit aus der Förderkasse finanzierter Farbe den Schimmel in den Klassenräumen?

Das ist die Debatte. Die aktuelle ist billiger, als es eine Spende je sein kann.

Verwendete Quellen
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