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Rücktritte von Kevin Kühnert, Ricarda Lang: Symbolik ist dringend notwendig


Kevin Kühnerts Rückzug
Eine dringend notwendige Symbolik

  • Nicole Diekmann
MeinungEine Kolumne von Nicole Diekmann

09.10.2024 - 13:30 UhrLesedauer: 4 Min.
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Kevin Kühnert im Sommer auf Wahlkampftour: Sein angekündigter Rücktritt hat zahlreiche Reaktionen ausgelöst. (Quelle: IMAGO/Steffen Proessdorf/imago)

Kevin Kühnerts angekündigter Rückzug aus der Politik ruft erhebliche Resonanz in sozialen Netzwerken hervor. Hier geschieht etwas, das dringend notwendig ist.

Es passiert nicht oft, dass politische Gegner einander zur Seite springen. Aktuell aber ist genau dieses außergewöhnliche Phänomen zu beobachten – und zwar in den sozialen Netzwerken. Das ist wohltuend, zumal diese Solidaritätsbekundungen von Kommunikationsprofis stammen: Das passiert also nicht zufällig vor den Augen einer breiten (und zum Teil verrohten) Öffentlichkeit. Genau das ist so gewollt. Es geht also auch um Symbolik. Um dringend notwendige Symbolik.

Nicole Diekmann
(Quelle: Reinaldo Coddou H.)

Zur Person

Die Fernsehjournalistin Nicole Diekmann kennt man als seriöse Politikberichterstatterin. Ganz anders, nämlich schlagfertig und lustig, erlebt man sie auf X – wo sie über 120.000 Fans hat. Dort filetiert sie politische und gesellschaftliche Aufreger rund ums Internet. Ihr Buch "Die Shitstorm-Republik" ist überall erhältlich. In ihrem Podcast "Hopeful News" spricht Diekmann jede Woche mit einem Gast über die schönen, hoffnungsvollen – einfach GUTEN Nachrichten. Bei t-online schreibt sie jeden Mittwoch die Kolumne "Im Netz".

Kevin Kühnert ist 35 Jahre alt. Für einen Spitzenpolitiker ist das jung. Umso überraschender bis bestürzender ist der Rückzug des SPD-Generalsekretärs, denn er begründet ihn mit seiner angeschlagenen Gesundheit. Woran Kühnert leidet, darüber sollen andere spekulieren; das ist für diesen Text nicht wichtig. Es ist einzig und allein für Kevin Kühnert wichtig – und für diejenigen, die ihm hoffentlich schnell und nachhaltig dabei helfen, wieder gesund zu werden.

Niedertracht, Häme und Stillosigkeit

Schon vorvergangene Woche gab es einen Paukenschlag in Berlin: Da traten die beiden Grünen-Chefs vor die Kameras und erklärten, beim nächsten Parteitag nicht wieder antreten zu wollen. Die Gründe, die Ricarda Lang und Omid Nouripour für ihre Entscheidung nannten, waren politischer Natur. Sie wollten die Verantwortung übernehmen für die zum Teil desaströsen Wahlergebnisse bei den Ost-Wahlen und den Weg freimachen für einen Neustart, den ihre Partei benötige, sagten die beiden. Und doch gibt es eine auffällige Gemeinsamkeit zwischen Ricarda Lang und Kevin Kühnert.

Lang wirkt in den sozialen Medien unglaublich – tja, und da sind wir schon beim Thema: "Erleichtert" wirkt Ricarda Lang, möchte ich eigentlich schreiben. Und zucke bei dem Wort zusammen. Denn Ricarda Lang entspricht nicht dem klassischen Schönheitsideal. Ricarda Lang ist übergewichtig. Man sieht es. Und mit dieser kurzen Beschreibung sollte es dann auch eigentlich gut sein. Eigentlich.

Ist es für viele aber nicht. Was über Ricarda Langs Körper an unterirdischen, geschmacklosen und durchweg in ihrer Schlichtheit die Intelligenz des reifen Teils der Menschheit beleidigenden Äußerungen im Netz zu lesen ist, ist zum Teil wirklich unfassbar. Und wirft Fragen auf, auf die zumindest ich keine Antwort finde. Nur Labels. So etwas wie Niedertracht. Häme. Stillosigkeit. Hinzu kommt die traditionelle Auffassung des von Ahnung weit entfernten Stammtisches, Politiker würden nicht arbeiten. Geschenkt. Wer sich einigermaßen interessiert für die Spitzenpolitik, weiß es besser. Wer ein Besserwisser sein will, behauptet etwas anderes.

Der Preis fürs Abhärten: der Verlust der Menschlichkeit

Menschen härten ab, und das ist gut. Steht man nämlich in der Öffentlichkeit, wird eines in Zeiten von X, Facebook und anderen frei Haus mitgeliefert: der Geifer verlorener Seelen. Der ganze Frust verabscheuungswürdiger und unreflektierter Leute, denen vieles egal (geworden) ist. Das auszuhalten, geht nur mit einer Rüstung. Aber die ist durchlässig – wenn es gut läuft. Denn der Preis wäre andernfalls der Verlust der Menschlichkeit: Wen keine negativen Gefühle mehr erreichen, den erreichen auch keine schönen Gefühle mehr. Und dann ergibt das Dasein nur noch wenig Sinn.

Lang hat sich nie öffentlich beklagt. Im Gegenteil: Die 30-Jährige hat sich trotz allen Hasses, der da ohne Unterlass, zuverlässig wie die Gezeiten, auf sie einprasselte, nicht in die Defensive drängen lassen. Hat gepostet, kommentiert und manchmal auch dem Mob offensiv die Stirn geboten. Jetzt aber feuert die Noch-Parteichefin eine Salve an ironischen, lustigen und klugen Posts ab, die indirekt zeigen: Es ist eine Befreiung. Die Aussicht darauf, den harten, zermürbenden Job an der Parteispitze demnächst los zu sein, kommt mit dem Geschenk der inneren Befreiung daher. Die ARD hat gerade ein sehr sehenswertes TV-Porträt über Lang veröffentlicht, gefertigt vom "Spiegel"-Journalisten Markus Feldenkirchen.

Ein harter Kampf, sich zu widersetzen

Der berichtet in dem Magazin von einem Gespräch mit Lang, kurz nach der Verkündigung ihres Rückzuges: "Man stecke in der Politik viel zu viel Arbeit in die Abstimmung irgendwelcher 'Wordings', bekannte sie. Und vergesse darüber, 'ob das da draußen noch irgendein Schwein versteht'. Lang gestand, sich manchmal in ihrer Rolle verloren zu haben, weil sie dachte, es allen recht machen zu müssen. 'Ich glaube, ich habe manchmal steifer, weniger authentisch, laberiger gewirkt, als ich es eigentlich bin.' Ihren Nachfolgern riet sie, sich die Freiheit zu nehmen, auch im Amt so zu sein, wie sie sind."

Das Bestechende an dieser Aussage wird noch getoppt vom Zeitpunkt. Der Subtext von Langs offenherzigen Zitaten ist: Sich den Zwängen zu widersetzen, ist ein harter Kampf. Wirklich frei reden, sich frei zu fühlen, ist für manche mit diesem Job nicht vereinbar. Innere Freiheit ist ein hohes Gut – sie zumindest ein Stück weit zu verlieren, ein hoher Preis. Ein zu hoher.

Es gibt sie: respektvolle, mitfühlende Postings

Kevin Kühnerts Rücktritt ist auch deshalb beachtlich, weil er sich nicht nur als Generalsekretär zurückzieht, sondern auch angekündigt hat, nicht mehr für den Bundestag zu kandidieren. Damit gibt er einen enormen Teil seines bisherigen Lebens auf. Die respektvollen, mitfühlenden Postings etwa von CDU-Politiker Jens Spahn, von FDP-Generalsekretär Bijan Djir-Sarai und von anderen Politikern aus anderen Parteien zeugen von Verständnis. Verständnis für die Härte des Betriebs. Wie gesagt: Es ist gut, dass dies auf offener Bühne passiert. (Und auch, dass ebenso nachvollziehbar für jedermann dokumentiert ist, wer aus der Politik noch nachtritt. Wie sagte Helmut Schmidt einmal? "In der Krise beweist sich der Charakter.")

Dann hat das, woran auch immer Kevin Kühnert leidet, wenigstens etwas Gutes.

Apropos gut: Gute Besserung, Kevin Kühnert.

Verwendete Quellen
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