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Debatte Messerverbot nach Solingen: Die gefährlichste Klinge ist Social Media


Diskussion um Messerverbot
Gefährlicher als lange Klingen

  • Nicole Diekmann
MeinungEine Kolumne von Nicole Diekmann

28.08.2024Lesedauer: 6 Min.
Meinung
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Nach der Tat von Solingen: Bundeskanzler Olaf Scholz und NRW-Ministerpräsident Wüst (Quelle: Henning Kaiser/dpa)

Seit dem mutmaßlichen Terrorakt von Solingen wird ein Messerverbot diskutiert. Dabei muss man endlich an die gefährlich scharfe Klinge namens Social Web ran.

Am Wochenende bekam ich Applaus von ungewohnter Seite: von rechts. Und zwar von weit rechts. Nämlich auf X, vormals Twitter. Warum? Weil ich dort geschrieben hatte, dass ich die Debatte über ein Verbot von Messern, deren Klinge länger als 6 Zentimeter ist, für Symbolpolitik halte: Bundesinnenministerin Nancy Faeser hat mit dieser Forderung nun eine große und realistische Chance, das eigene ramponierte Image aufzupolieren und ihre SPD vor dem Untergang bei den Wahlen in Sachsen und Thüringen am Sonntag zu retten.

Dass sich die FDP in dieser Frage direkt nach der Tat von Solingen auf einmal doch gesprächsbereit zeigte, nun aber wieder zurückrudert, zeigt vor allem eins: Hier wird mit Blick auf die Fünfprozenthürde taktiert – mit dem Wissen, wie viel Aktionismus hinter einem solchen Messerverbot steckt. Die große Angst vor der AfD lässt viele politisch Verantwortliche auf den in die Jahre gekommenen – und natürlich verspäteten – Regionalexpress mit dem Namen "typische Reflexe" aufspringen.

Nicole Diekmann
(Quelle: Reinaldo Coddou H.)

Zur Person

Die Fernsehjournalistin Nicole Diekmann kennt man als seriöse Politikberichterstatterin. Ganz anders, nämlich schlagfertig und lustig, erlebt man sie auf der Plattform X – wo sie über 120.000 Fans hat. Dort filetiert sie politische und gesellschaftliche Aufreger rund ums Internet. Ihr Buch "Die Shitstorm-Republik" ist überall erhältlich. In ihrem Podcast "Hopeful News" spricht Diekmann jede Woche mit einem Gast über die schönen, hoffnungsvollen – einfach GUTEN Nachrichten. Bei t-online schreibt sie jeden Mittwoch die Kolumne "Im Netz".

"Frau Diekmann, endlich mal was Vernünftiges von Ihnen", antworteten mir da Leute, deren eigene Beiträge ein ausgeprägtes Maß an Unvernunft ausweisen. "Hätte ich gar nicht gedacht, mal so etwas von Ihnen zu lesen", schrieb mir ein Sportschütze. Sportschützen, muss man wissen, verfolgen jede Waffenrechtsdiskussion äußerst angespannt: Viele haben große Sorge, ihre Waffe nicht mehr zu Hause aufbewahren zu dürfen. Folgerichtig freuen sich solche Leute, wenn man sich gegen eine mögliche Verschärfung des Waffenrechts ausspricht.

Nun muss ich meine neue Fangemeinde leider direkt enttäuschen: Es ist mir absolut schleierhaft, warum jemand eine oder mehrere Pistolen zu Hause haben muss. Mir fällt außer dem Schießen auch keine Gelegenheit ein, für die man eine Pistole braucht. Wenn ich im Verein schieße, wird der wohl einen Schrank dafür bereithalten.

Dieses kleine Gerät ist eine gefährlich Waffe

Bei Messern aber liegt der Fall anders. Messer habe auch ich zu Hause. Auch scharfe. Mehrere sogar. Solche mit kurzer Klinge, mit denen ich Zwiebeln, Möhrchen oder Paprika schneide. Ich habe aber auch wirklich lange. Die benutze ich zum Beispiel für Melonen. Ich brauche Messer, ich benutze sie täglich. Wofür ich sie nicht benutze: um anderen damit Gewalt anzutun. Denn ich bin nicht radikal. Ich hasse nicht.

Dabei bin ich auch im Besitz einer anderen Waffe – und zwar einer, die potenziell nicht nur am furchtbaren Ende einer Radikalisierung stehen kann – sondern auch am Anfang. Diese Waffe ist – anders als Messer – total verzichtbar. Ich könnte auch ohne sie gut leben, ohne größere Einschränkungen. Und ich habe sie immer dabei. Und zwar auf meinem Smartphone. Ich meine damit die sozialen Netzwerke.

Diese haben das Potenzial, andere zu verletzen. Schwer zu verletzen. Theoretisch kann ich unter ihrer Zuhilfenahme hetzen, verleumden, beleidigen. Ich kann andere dazu aufrufen, es mir nachzutun. Oder ich kann andere zumindest darin bestärken und anfeuern, so etwas zu tun. Und andersherum kann ich auch sehr einfach dazu angestachelt werden, all dies zu tun. Und Online-Taten auch welche in der Realität folgen zu lassen. Ich muss die entsprechenden Kanäle nicht mal suchen. Früher oder später finden sie mich. Je nach meinem Nutzerverhalten, meinen Interessen, meinem Nachrichtenkonsum, sorgt der Algorithmus dafür, dass ich islamistische, rechtsextremistische, antisemitische oder auch andere verbrecherische Inhalte in meine Timeline angespült kriege. Das Gift kommt quasi frei Haus beziehungsweise frei Empfangsgerät.

Messerverbot hält Mörder nicht ab

Gott sei Dank kann ich mich schwer in einen Terroristen hineinversetzen. Ich bin psychisch gesund. Mein ebenso gesunder Menschenverstand aber sagt mir: Jemand, der in hohem Maße vergiftet ist und entschlossen, zu morden – den hält ein Messerverbot nicht ab. Niemand, der ein Kapitalverbrechen zu begehen bereit ist, denkt sich: "Ach so, geht ja nicht. Messer sind ja verboten!" Mord ist verboten. Und das war auch schon vor Solingen so.

Verbrechen, der Aufruf zu Verbrechen im Netz, sind auch verboten. Aber wir wissen: Da existieren bis heute absolut rechtsfreie Räume. Jeder Strafverfolger sagt Ihnen das resigniert offen ins Gesicht.

Dazu passt eine Nachricht vom vergangenen Wochenende, die wegen Solingen ein wenig untergegangen ist: Am Samstag wurde der in Russland geborene Milliardär Pawel Durow verhaftet, nachdem er mit einem Privatflugzeug auf dem Flughafen Le Bourget bei Paris gelandet war. Durow ist der Gründer von Telegram.

Telegram als digitales Fentanyl

Telegram ist eine 2013 gestartete Messaging-App mit mehr als 900 Millionen Nutzern. Zum Vergleich: In der gesamten EU leben rund 500 Millionen Menschen. Um mal im Themenbild "Gift" zu bleiben: Wenn Facebook, Instagram und andere Erzeugnisse aus dem Hause Meta Cannabis sind, dann ist Twitter/X Heroin, TikTok entspricht Crack – und Telegram Fentanyl. (Sie finden in den sozialen Netzwerken verstörende Videos von Menschen auf Fentanyl. Danach werden Sie sehr genau wissen, von welchem Ausmaß ich hier schreibe.) Und damit meine ich nicht, wie schnell und wie abhängig die einzelnen Stoffe Menschen machen – sondern wie abgründig die damit einhergehenden Folgen sind.

Der bestens informierte und fundierte Social-Media-Newsletter "Platformer" schreibt: "Am Montag gab Laure Beccuau, Staatsanwältin in Paris, eine Erklärung ab, in der es hieß, Durow sei im Rahmen einer am 8. Juli eingeleiteten Untersuchung gegen eine ungenannte Person wegen eines Dutzends möglicher Anklagen verhaftet worden, darunter Mittäterschaft bei der Verbreitung von CSAM (Anm. d. Red: "Child Sexual Abuse Material". Bilder, Videos oder Texte, die den sexuellen Missbrauch von Kindern zeigen), Mittäterschaft bei der Verbreitung von Drogen, Geldwäsche und Verweigerung der Zusammenarbeit mit der Strafverfolgung. Es wird auch vermutet, dass Telegram seine verschlüsselte Kommunikation missbräuchlich verwendet hat. Es ist unklar, wer die Person ist, gegen die ermittelt wird. Es wäre jedoch seltsam, wenn sich die Ermittlungen darüber, wie Telegram Cyberkriminalität ermöglicht, nicht auf den CEO des Unternehmens konzentrieren würden."

Tatsächlich genießt Telegram in denkbar zweifelhaften Kreisen einen exzellenten Ruf. Telegram ist die Heimstatt alles Verdorbenen. Denn das Unternehmen schreibt zwar im Kleingedruckten, es sei nicht erlaubt, illegale pornografische Inhalte oder Gewaltaufrufe in öffentlichen Kanälen zu veröffentlichen. Das allerdings ist lachhaft: Gleichzeitig nämlich brüstet sich Telegram seit Jahren damit, keinerlei Anstrengungen zu unternehmen, sollte etwas gemeldet werden. Auch die Zusammenarbeit mit Strafverfolgungsbehörden schließt Telegram explizit aus.

Knotenpunkt für Verbrechen

Das nutzen Verbrecher selbstverständlich weidlich aus: Wie das Internet Observatory der Stanford Universität 2023 festgestellt hat, können Nutzer auf Telegram Inhalte, die sexualisierte Gewalt an Kindern zeigen, ungehindert verbreiten. Brian Fishman, ehemaliger Anti-Terrorismus-Chef von Meta, schreibt außerdem auf Threads, dem neuesten sozialen Netzwerk aus dem Hause Zuckerberg über Telegram: "Es ist seit einem Jahrzehnt der wichtigste Knotenpunkt für Isis." "Isis" ist der weltweit verbreitete Name für den sogenannten Islamischen Staat. Der die Tat von Solingen ja für sich reklamiert.

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Einen direkten Zusammenhang zwischen Medienkonsum und Radikalisierung, ja, konkreter Tat herzustellen, ist immer schwierig. Menschen wie Durow aber über dem Gesetz stehen zu lassen und sich gar nicht mehr zu trauen, Kanäle zu sperren, ist verantwortungslos. Hasenfüßig und unredlich ist es zudem, den scheinheiligen Schreihälsen nachzugeben, die den Begriff "Meinungsfreiheit" für ihre teuflische Agenda bis zur abscheulichen kriminellen Unkenntlichkeit ausdehnen. Die Politik muss handeln. Endlich handeln. Durows Verhaftung ist erst mal eine gute Nachricht. Aber Durow ist nicht der einzige Mensch, der mit Hass und mit Verbrechen Geld verdient. Indirekt zwar – aber Macht bedeutet Verantwortung. Das gilt natürlich ebenso für Elon Musk und Mark Zuckerberg und andere.

Unterwerfung ist keine Lösung

Es ist ein Kraftakt, dieses riesige, allgegenwärtige und so lange vernachlässigte Problem anzugehen. Im Falle von TikTok müsste man sich ja wahrscheinlich sogar gleich mit den chinesischen Machthabern anlegen, die wohl nicht nur einen Fuß im Unternehmen haben, das hinter der Plattform steht.

Aber ist Unterwerfung aus Angst, zu scheitern oder wichtige Handelspartner zu verärgern, die richtige Antwort? (Das ist eine rhetorische Frage.) Es ist ein dickes Brett, das man bohren müsste. Damit verglichen, ist das Thema Messerverbot eine Rigips-Wand. Allerdings womöglich auch genauso wenig stabil.

Verwendete Quellen
  • Eigene Meinung
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