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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Chatkontrolle in der EU "Als ob in allen Schlafzimmern eine Kamera installiert wäre"
Mit der Chatkontrolle will die EU jegliche Kommunikation auf Kindesmissbrauch scannen. Piraten-Politiker Patrick Breyer warnt im Interview vor Massenüberwachung und dem Schaden für Unschuldige.
Anfang Juni hat das EU-Parlament die Chatkontrolle beschlossen. Das bedeutet: Anbieter von E-Mail-, Messenging-, oder Videokonferenzdiensten dürfen die Kommunikation aller Bürger überwachen. Algorithmen sollen beispielsweise in Chats vom Facebook Messenger oder Mails in Gmail nach kinderpornografischem Material oder Hinweis zu Kindesmissbrauch suchen. Werden sie fündig, schicken sie die Inhalte an die Anbieter, die sie wiederum an Behörden weiterleiten.
Diese Ausnahmeregelung der sogenannten E-Privacy-Verordnung soll bis Ende 2022 gelten. Microsoft und Google wendeten sie in Europa bereits in Erwartung eines Gesetzes an. Nur Facebook hatte sie bisher ausgesetzt. Verschlüsselte Inhalte sind von der Regelung erst mal nicht betroffen. Das könnte sich aber in Zukunft ändern.
133 Abgeordnete stimmten gegen diese flächendeckende Überwachung. Einer davon ist Patrick Breyer von der Piraten-Partei. Im Interview erklärt Breyer, warum er gegen das Gesetz gestimmt hat, warum solche Bestimmungen Betroffenen nicht unbedingt helfen und warum auch Unschuldige sich Sorgen machen sollten.
t-online: Herr Breyer, warum haben Sie gegen ein Gesetz gestimmt, das Kinderpornographie eindämmen soll?
Patrick Breyer: Es gibt vier Reiter der Infokalypse, mit denen man alle Eingriffe in unsere Grundrechte rechtfertigen kann: Terrorismus, Drogenhandel, Geldwäsche und Kinderpornographie. Sie dürfen sich nicht von der Überschrift solcher Gesetze blenden lassen. Sie müssen sich immer fragen: Taugt diese Maßnahme wirklich, um Kinder zu schützen? Schadet sie Missbrauchsopfern nicht eher? Und: Gibt es durch die Maßnahmen sogar schwerwiegende Kollateralschäden – die unverhältnismäßig und unzumutbar in die Grundrechte eingreifen?
Und ist das hier der Fall?
Ja, in allen Punkten trifft das zu.
Wem schadet denn Chatkontrolle?
Die Bundesrechtsanwaltskammer warnt, dass Missbrauchsopfer besonders unter dieser Durchleuchtung leiden. Denn ihnen werden letzten Endes die Räume für vertrauliche Beratung und Unterstützung genommen.
Wie meinen Sie das?
Missbrauchsopfer müssen sich zum Beispiel anwaltlich beraten lassen: Da müssen eventuell auch online Bilder versandt werden, bei denen das System anschlagen könnte. Dadurch werden den Opfern die Räume für eine vertrauliche Beratung genommen. In einem geschützten Raum frei über das Erlittene sprechen zu können, ist für Missbrauchsopfer aber unersetzlich. Wir haben auch mit einem Missbrauchsopfer gesprochen, der sich gegen diese Chatkontrolle ausspricht, Alexander Hanff, der sich ähnlich äußert.
Aber meinen Sie nicht, dass so ein Kontrollsystem dennoch den einen oder anderen Täter schnappen könnte?
Es werden schon tausende Verdachtsmeldungen geschickt und da ist tatsächlich strafbares Material dabei. Aber unsere Polizei ist total überlastet, wenn es darum geht, Kinderpornographie zu verfolgen und sexuellen Missbrauch aufzuklären. Es dauert teilweise Monate bis Jahre, bis Behörden Verdächtige durchsuchen und beschlagnahmte Daten auswerten. In dieser Überlastungssituation muss man nach meiner Sicht die höchste Priorität auf den Schutz der Opfer setzen.
Was wäre Ihre Lösung?
Die Behörden personell und technisch entsprechend ausstatten, damit sie Verdachtsmomenten auch zeitig nachgehen können. Denn: Die Hintermänner des Missbrauchs tauschen ihr Material nicht über Facebook aus. Die finden Sie im Darknet. Hier muss man ansetzen, was in der Vergangenheit auch geschehen ist. Das ist aber natürlich personalaufwendig. Das heißt: Mit der Chatkontrolle erwischen Sie für gewöhnlich nicht diejenigen, die das Material herstellen.
Aber würde die Chatkontrolle nicht dazu führen, dass wenigstens weniger Material verbreitet wird?
Nein. Wir sehen bei US-Konzernen, die seit Jahren diese Durchleuchtung anwenden, dass die Zahl der Verdachtsmeldungen jährlich steigt. Das heißt, trotz dieser Durchleuchtung wird immer mehr Material verbreitet.
Klingt nicht gut.
Nein. Was aber viel wichtiger ist: Die allermeisten Fälle von Kindesmissbrauch werden gar nicht erst bekannt. Der meiste Missbrauch findet durch nahestehende Personen und Betreuungspersonen statt. Hierfür muss es mehr Aufmerksamkeit geben und wir müssen mehr Unterstützungs- und Beratungskanäle für Kinder und Personen in ihrem Umfeld anbieten.
Wie sollte man mit den Tätern umgehen?
Es muss auch mehr Therapieplätze für Pädophile geben, die sich therapieren lassen möchten. Auf der anderen Seite fehlt auch den Opferschutzorganisationen meist eine stabile Finanzierung. In all diesen Bereichen gäbe es so viel zu tun.
Sie sagten, auch Dritte könnte Schaden durch so eine Regelung nehmen. Wie meinen Sie das?
Diese Massenüberwachung trifft Menschen, die auf vertrauliche Kommunikation angewiesen sind. Wie Presseinformanten oder auch Whistleblower. Ein anderes Problem sind Online-Gespräche mit Anwälten oder Psychotherapeuten. Viele Menschen werden vertrauliche Informationen nicht mehr teilen, wenn sie befürchten müssen, dass intimste Probleme bei der Polizei landen.
Das System soll ja nur anspringen, wenn es entsprechendes Material entdeckt. Warum sollte das bei irrelevanten Dingen passieren?
Diese Algorithmen haben hohe Fehlerquoten. Wenn Sie ein Foto Ihres Sommerurlaubs am Strand schicken, wo Kinder zu sehen sind, könnte es anschlagen. Wenn Sie eigene Nacktfotos schicken, könnte es anschlagen. Oder wenn Jugendliche sich untereinander Nacktbilder von sich selbst schicken, könnten sie bei der Polizei landen. In Deutschland sind dreißig Prozent der Personen, gegen die wegen Kinderpornographie ermittelt wird, minderjährig. Dieses Verfahren kann also dazu beitragen, Minderjährige zu kriminalisieren – obwohl es sie ja schützen soll.
Okay, sagen wir, ich schicke ein Bild meiner Nichte weiter und das System schlägt an. Letzten Endes wird ja auch ein Mensch das Ganze anschauen und als irrelevant einordnen, oder?
Kommt drauf an: In der Schweiz ordnet die Polizei 86 Prozent solcher Meldungen als strafrechtlich irrelevant ein. In Deutschland sortiert das Bundeskriminalamt erst einmal nur 40 Prozent aus. Da fragt man sich natürlich: Wie kann das sein? Offenbar sieht man dann vielleicht trotzdem ein Verdachtsmoment, selbst wenn das Material nicht strafbar ist. Oder nehmen wir mal an, jemand hackt Ihren Mail- oder Social-Media-Account und sendet darüber strafrechtlich relevante Fotos. Oder es reicht, wenn Sie in einer Facebook-Gruppe sind, wo jemand solche Bilder teilt – auch dann können Sie für Behörden als verdächtig gelten.
Dennoch ist man ja unschuldig.
Das mag sich am Ende herausstellen. Aber erst mal durchsucht die Polizei Ihr Haus und beschlagnahmt Ihren Rechner. Nach solchen Anschuldigungen können Sie auch Arbeitsplatz oder Freunde verlieren oder Ihre Ehe kann daran zerbrechen. In Großbritannien gab es solche Fälle, wo sich die Betroffenen danach das Leben genommen haben. Und es können auch noch andere Dinge passieren.
Was denn noch?
Dass Nacktfotos durch diese Chat-Kontrolle in die falschen Hände geraten. Zum Beispiel, dass unterbezahlte Moderatoren sozialer Netzwerke sich durch solche Fotos etwas dazuverdienen wollen.
Gab es solche Fälle schon?
2010 wurde bekannt, dass ein Google-Angestellter mithilfe der Unternehmenssysteme Minderjährigen nachgestellt hat. Diese verdachtslose Chatkontrolle bedeutet Verheerendes: Es ist, als ob die Post alle unsere Briefe öffnen und scannen würde. Oder, wenn in allen Schlafzimmern eine Kamera installiert wäre. Oder, wenn Behörden verdachtslos Wohnungen durchsuchen könnten. So etwas hatten wir auf deutschen Boden nur in Diktaturen.
Wieso wurde so ein Gesetz überhaupt beschlossen, wenn es so viele Kritikpunkte gibt?
Dahinter stecken eine Kampagne und massiver Druck von US-Konzernen. Die wenden diese Durchleuchtung bereits an und wollen nicht, dass Europa sein Grundrecht auf Fernmeldegeheimnis durchsetzt. Die Verfechter setzten auf die moralische Keule und schickten internationale Kinderschutzorganisationen vor. Die meinen, man kann Kindesmissbrauch mit Technologie lösen und argumentierten mit Sätzen wie "Datenschutz ist Täterschutz". Auch der US-Schauspieler Aston Kutscher, der selbst in Überwachungstechnologie investiert, hat sich mit emotionalen Appellen etwa an die Kommissionspräsidentin von der Leyen oder an SPD-Abgeordnete gewendet.
Diese Chatkontrolle betrifft ja unverschlüsselte Dienste. Sind Nutzer von verschlüsselten Diensten wie WhatsApp oder Signal nicht geschützt?
Ja, noch. Aber die EU-Kommission hat bereits angekündigt, dass sie spätestens im Herbst eine Nachfolgegesetzgebung vorschlagen will, die die Chatkontrolle für alle Anbieter verpflichtend macht. Das würde zum einen bedeuten, dass auch alle europäischen E-Mail- und Messaging-Anbieter gezwungen wären, diese Chatkontrolle anzuwenden. Und zum anderen wären die verschlüsselten Anbieter gezwungen, eine Hintertür einzubauen, um diese Durchleuchtung vornehmen zu können. Damit wären diese Nachrichten auch vor Hacker-Gruppen oder Geheimdiensten nicht mehr sicher.
Was können Bürger tun, um solche Maßnahmen zu verhindern?
Wir bereiten eine Klage gegen das Gesetz vor und suchen dafür Missbrauchsopfer als Kläger, die ja besonders negativ betroffen sind. Betroffene können sich gerne an uns wenden. Ansonsten kann man Aufmerksamkeit für das Thema schaffen – auch in Hinblick auf die kommende erweiterte Chatkontrolle.
Droht uns endgültig der gläserne Bürger?
Hinter dem Ganzen steht der Glaube, man könnte mit der digitalen Technik eine bessere Welt im Netz erschaffen als sie in der Realität existiert. Ich glaube nicht, dass es geht – und wenn dann nur um den Preis eines chinesischen Internets, in dem wirklich alles kontrolliert und durchleuchtet ist.
Und dieser Preis ist zu hoch?
Ja. Ich habe auch ein Kind und will, dass es wirksam geschützt ist. Aber ich will auch, dass es in Zukunft mit privaten Räumen aufwachsen kann. Ich will nicht, dass nur, weil etwas passieren könnte, alles unter Überwachung stellen. Denn unter permanenter Überwachung kann man sich nicht frei verhalten und äußern. Man hat ständig diese Angst im Hinterkopf, dass irgendein Algorithmus einen anzeigen könnte. Wenn ich alle Freiheiten, die missbraucht werden könnten, von vornherein abschaffe, dann habe ich auch bald keine mehr.
Herr Breyer, vielen Dank für das Gespräch
- Eigenes Interview
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