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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Besser ballern mit dem Gaming-Coach Nachhilfe im Zocken – ab 17 Euro die Stunde
Wer richtig gut online zocken will, muss viel üben. Einige Firmen bieten darum ambitionierten Gamern Nachhilfe in ihrem Lieblingsspiel an – und die Nachfrage wächst.
Wenn Julian Miculcy Nachhilfe gibt, hat er immer eine Waffe im Anschlag. Er erwartet seinen Schüler mit Helm und Schutzweste, in einem leeren Gebäude irgendwo im Nahen Osten. An die Fenster hat jemand Holzbretter genagelt, draußen stehen verlassene Autos, Sand weht durch die Straße. "Eine Granate, die von oben fliegt, explodiert entweder hier oder hier", sagt Miculcy und schießt mit seinem Gewehr auf den Ort der möglichen Explosion. "Oder du wirfst die Granate so, dass sie in einer Sekunde explodiert – das wäre hier."
Der 29-jährige Miculcy ist kein Ausbilder im Militär, der Polizei oder einer Terrororganisation. Er sitzt in einem Büro im Berliner Bezirk Tiergarten. Seine Augen blicken auf zwei Monitore, seine rechte Hand bewegt eine Maus, die linke huscht über eine Tastatur: Miculcy ist von Beruf Gaming-Coach. Jemand, der Nachhilfe im Computerspielen gibt. Seine Schüler trifft er im virtuellen Raum eines Games, hier im Taktik-Shooter "Rainbow Six: Siege".
In dem Spiel kämpfen zwei Teams gegeneinander und müssen beispielsweise Geiseln retten oder Bomben entschärfen. Miculcys Schüler wollte heute seine Verteidigungsstrategien verbessern: "Vor einer Nachhilfestunde besprechen wir per Chat, in welche Richtung das Coaching gehen soll", sagt Miculcy. "Damit ich auf Wünsche der Schüler eingehen kann und nicht einfach irgendwas erzähle und sie nichts lernen."
Coaching wie ein Fußballtrainer
Für gewöhnlich trainieren Leute wie Miculcy Profispieler, sogenannte eSportler. Gaming-Coaches wie er sollen das Training eines eSport-Teams organisieren, Fehler finden und Taktiken ausbauen – wie ein Fußballtrainer. Otto Normalspieler mussten sich dafür selbst einen Lehrer suchen. Doch seit einigen Jahren gibt es Firmen, die sich auf die Vermittlung von Coaches spezialisiert haben. So wie GamerLegion, Miculcys Arbeitgeber. Der bietet neben Nachhilfe in "Rainbow Six" auch Coaching in anderen Games. "Vor allem um 'Fortnite' gibt es einen Riesenrummel", sagt Miculcy.
Bisher fanden sich solche Firmen meistens im angelsächsischen oder asiatischen Raum. So soll die US-Firma Gamer Sensei von März bis Juli 2018 mehr als 1.400 Lehrer für das Spiel "Fortnite" vermittelt haben. Und in China gibt es sogar eine Berufsschule, an denen Schüler Computerspielen lernen können.
GamerLegion selbst beschäftigt derzeit 40 Coaches, größtenteils Freiberufler. 2017 wurde das Unternehmen gegründet. "Unser Chef gab damals selbst Coachings und wurde privat angefragt", sagt Miculcy. "Irgendwann konnte er die Nachfrage allein nicht mehr stemmen. Also gründete er GamerLegion."
Zwar steht die junge Firma mit seinem Angebot in Deutschland noch recht allein da. Doch auch in der Bundesrepublik wächst die Nachfrage nach Nachhilfe in Sachen Gaming – was auch daran liegen mag, dass Games in der Gesellschaft immer mehr anerkannt werden.
Von "Killerspielen" zum Kulturgut
Dabei war das lange undenkbar. Anfang der 2000er wurden Games von Politik, Medien und Gesellschaft kritisiert, Action-Spiele wie "Rainbow Six" als "Killerspiele" abgetan. Aktivisten forderten deren Verbot. Galeria Kaufhof nahm 2009 sogar "Killerspiele" aus dem Sortiment.
Doch schon 2008 zeigte sich ein Umdenken: In diesem Jahr würdigte der Deutsche Kulturrat Videospiele als Kulturgut. Seit 2009 verleihen das Ministerium für Verkehr und digitale Infrastruktur zusammen mit dem Computerspieleverband game den Deutschen Computerspielpreis. Ein Höhepunkt dieser Entwicklung war laut game-Geschäftsführer Felix Falk der Besuch Angela Merkels auf der Gamescom 2017. Dort bezeichnete die Kanzlerin Videospiele als Kulturgut, Wirtschaftskraft und Innovationsfaktor. "Populistische Begriffe wie 'Killerspiele' tauchen heute glücklicherweise kaum noch auf", sagt Falk.
Er vermutet, dass es in Deutschland in Zukunft noch mehr Angebote für Gaming-Nachhilfe geben könnte. Ein Grund dafür sei der eSport. In Turnieren locken Preisgelder von Hunderten oder Tausenden Euro, manchmal sogar Millionen. Und wer auf Profi-Niveau spielt, wird von Firmen gesponsert wie ein Fußballspieler. "eSports wächst rasant und es gibt immer mehr Menschen, die auf Spitzensportlerniveau spielen wollen", sagt Falk.
Drei Tipps für Ego-Shooter von Profi-Gamer Julian Miculcy
1. Karten lernen: So können Sie die Position von Gegnern am besten erahnen und entsprechend reagieren.
2. Kommunikation: Immer mit Team-Mitgliedern alle Schritte absprechen. Beispielweise, wer gerade wohin geht.
3. Zieltraining: Trainingsmodi spielen oder Reflex-Training auf speziellen Websites machen.
Eine Stunde kostet 28 Euro
Tatsächlich sind Gaming-Coaches wie Miculcy oft ausgebucht. Derzeit sucht GamerLegion vier neue Coaches. "Einmal nahm sogar ein Vater mit seinem Sohn bei uns eine 'Fortnite'-Stunde“, erzählt Miculcy. "Der wollte lernen, was sein Sohn da spielt."
Miculcy selbst unterrichtet nur Erwachsene, denn das Spiel "Rainbow Six: Siege" ist ab 18 Jahren freigegeben. Derzeit verlangt der Ex-Profi-Gamer 28 Euro pro Nachhilfestunde. Taktiken und Tipps gibt es aber auch gratis im Internet: in Foren, Wikis oder auf YouTube. Dennoch hat Miculcy immer wieder Schüler. Der Grund: Zeitersparnis: "Natürlich kann jemand sich stundenlang Videos anschauen", sagt Miculcy. "Aber das Gleiche lernt er mit mir in einer Stunde. Und vor allem heutzutage ist Zeit ja Geld."
Nicht jeder will Profi werden
Viele von Miculcys Schüler wollen dabei gar keine Profis werden. "Die wollen auf gutem Niveau spielen", sagt der 29-Jährige. "Oder in einem Turnier weiter als die erste Runde kommen." Felix Falk vom game-Verband vergleicht das Ganze mit Tennis-Stunden: "Auch da nehme ich mir als Hobby-Spieler, ein, zwei Stunden, um mir von einem erfahrenen Spieler einige Tricks zeigen zu lassen."
Tatsächlich kann auch für Gamer manches, was Miculcy seinen Schülern erklärt, wie eine Fremdsprache klingen. Es fallen Sätze wie: "Wenn Gegner Thermite nehmen – der beste Pick auf Border – und du wenig zum Öffnen hast, kannst du nicht tricken." Übersetzt heißt das grob gesagt: Eine bestimmte Taktik (tricken) auf einer bestimmten Karte (Border) lässt sich nicht spielen, wenn Gegner einen bestimmten Sprengsatz (Thermite) nutzen.
Englischlernen mit Nachhilfe in "Fortnite"
Auch die Wiener Firma GoStudent will sich auf dem Markt für Gaming-Nachhilfe etablieren. Im Grunde bietet das Unternehmen von Felix Ohswald Nachhilfe per Videochat in Schulfächern wie Deutsch oder Mathe. Seit Ende 2018 steht aber auch "Fortnite" auf der Liste. "Videospiele verbinden Kinder weltweit", sagt Ohswald. "Wir haben überlegt, wie wir das mit klassischer Nachhilfe kombinieren können." Die Antwort: "Fortnite"-Nachhilfe auf Englisch.
Schüler sollen so die Sprache nebenbei während des Coachings lernen. Eine andere Möglichkeit: Schüler bekommen sechs Stunden Mathe-Nachhilfe. Die siebte Stunde ist "Fortnite" auf Deutsch – quasi als Belohnung. "Das hat den Effekt, dass Schüler mit dem Nachhilfeunterricht etwas für sie Positives verbinden", sagt Ohswald.
Anzeigen über Facebook
Wie auch Miculcys Schützlinge wollen viele GoStudent-Schüler ihre Fähigkeiten im Spiel verbessern. Der Lehrer analysiert dafür das Spielverhalten der Schüler und gibt ihnen Feedback. "Wir haben festgestellt, dass die meisten Spieler im Grunde sehr gut sind", sagt Ohswald. "Die wollen vor allem von einem erfahrenen Spieler bestimmte Spielsituationen erklärt bekommen."
Kunden sucht GoStudent in sozialen Medien wie Facebook oder Instagram. Etwa 50 Stunden pro Woche werde die "Fortnite"-Nachhilfe genutzt, im Schnitt kostet eine Stunde 17 bis 21 Euro. Auf seiner Website hat GoStudent das Angebot aber noch versteckt. "Wir sehen uns nicht als Akademie, um Profispieler auszubilden", sagt Ohswald. "Wir sind eine Nachhilfeplattform für klassische Schulfächer – und das präsentieren wir den Eltern auch."
Taktiken als PowerPoint-Präsentation
In Zukunft könnte GoStudent das Projekt mit anderen Spielen erweitern. Auch GamerLegion plant, ihr Angebot mit sechs weiteren Games auszubauen, darunter das Fußballspiel "Fifa". Daneben bietet das Unternehmen seit April auch Gaming-Workshops. Dabei halten Coaches Vorträge und präsentieren ihre Tipps zu "Fortnite" oder "League of Legends".
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Miculcys selbst verschickt nach einer Coaching-Stunde manchmal PowerPoint-Präsentationen. Darin hat der 29-Jährige auf Karten von "Rainbow Six: Siege" die wichtigsten Taktiken notiert. Und seine Methode zeigte bereits Erfolg: Er erzählt, wie dank seines Coachings sich ein Team für die Deutsche eSport Bundesliga qualifiziert hat: "Die haben sich riesig gefreut und ich mich mit ihnen", sagt Miculcy. "Das ist das beste Gefühl, das ein Coach haben kann. Denn es zeigt: Deine Arbeit hat wirklich etwas gebracht."
- Website von GamerLegion
- Website von GoStudent
- Wall Street Journal: "Ready, Aim, Hire a ‘Fortnite’ Coach: Parents Enlist Videogame Tutors for Their Children" (englisch)
- Galileo auf YouTube: "Die Zocker-Universität: Wie Schüler in China den Beruf des Gamers lernen"
- Eigene Recherchen