Identitätsdiebstahl Wie Victoria Bornemann einer Britin im Internet das Leben klaute
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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Identitätsdiebstahl extrem: Jahrelang ist das Leben einer Engländerin für einen deutschen Fake-Account bis ins Detail kopiert worden. Auf die falsche "Victoria Bornemann" ist auch Sarah Kuttner reingefallen.
Sie war witzig, sie war rau, sie war falsch – und am 23. Juni musste sie sterben. Victoria Bornemann aus Essen-Kray wurde nach ihren eigenen Angaben 33 Jahre alt. Aber das ist so gelogen wie ihr angebliches Leben in London. Ihr echtes Alter lässt sich auf den Tag genau ausrechnen.
Sechs Jahre, fünf Monate und 29 Tage lang sammelte ein Unbekannter Follower, Freunde und Anerkennung mit Fotos und Details aus dem Leben einer anderen Frau. Diese Frau lebt südlich von London und ahnte nichts von ihrem Kontrollverlust. "Man hat mir meine Lebensgeschichte gestohlen", berichtete sie t-online.de. "Mit vielen kleinen Details, und das macht es beängstigend."
Sie schickt unserer Redaktion ein Video, es zeigt sie mit ihrem Pass. Es beweist: Sie ist Samantha McCormick, 32 Jahre alt, sie arbeitet bei einer Bank, jobbte als Fitness-Modell und hat Schauspiel studiert. Und sie ist die Frau, deren Daten unter dem falschen Namen "Victoria Bornemann" auf Twitter, auf Facebook und auf Instagram und Spotify zu sehen waren.
Victoria pflückte sich vielleicht schon seit 2008, was Samantha in sozialen Netzwerken postete. In dem Twitter-Account "@SpeedleDum" wurden diese Bilder mit Anekdoten eingestreut zwischen bissige, selbstironische und witzige Tweets. "Schmunzeltwitter" nennen viele diesen unterhaltsamen Teil des Netzwerks, heiter bis sarkastisch und oft ein bisschen böse.
"Die andere Tochter, die ohne Mann"
Victorias Ansichten und Gedanken schafften es regelmäßig in die Sammlungen geistreicher Tweets, sie wurden verbreitet von Radiosendern wie MDR Sputnik und BigFM. Victoria sammelte mit rund 13.700 Tweets mehr als 14.000 Follower.
14.000 Menschen, von denen viele mit Victoria fühlten, wenn sie Ärger im Job, mit dem Auto oder Liebeskummer hatte. Victoria postete auch Fotos von Eskapaden aus Samanthas schwieriger Zeit, sie hatte ein Alkoholproblem. "Mein Leben ist kein Feenmärchen", sagt die Engländerin. "Ich bin nicht stolz darauf." Aber es ist ihre Vergangenheit, "und dann ist es so ekelhaft, wenn jemand daraus eine eigene Erfolgsgeschichte macht."
Doch der falschen Victoria passte offenbar nicht alles am Drehbuch von Samanthas Leben. Bei @SpeedleDum war keines der Fotos zu sehen, die Samantha mit ihrem Freund zeigen. Victoria träumte lieber öffentlich von Kevin Spacey oder vom sexy Nachbarn und twitterte: "Victoria, Fitnessmodel, sucht einen schönen Millionär, der sie mit Steak füttert." Oder: "Meine Mutter hat gerade von mir als 'Die andere Tochter, die ohne Mann' gesprochen. Mein Kopf steckt jetzt im Backofen."
Likes und Retweets wirken wie Schokolade
Samantha versucht, sich in den Mensch hineinzuversetzen, der mit ihrem Körper unterwegs war: "Ich denke, in ihrer Story wollte sie Single sein. Vielleicht, weil ihr das bei männlichen Followern mehr Interesse eingebracht hat."
Interesse, Interaktionen, Likes, Retweets könnten der Antrieb gewesen sein, finanzielle Vorteile hatte die Person hinter dem Twitter-Account nicht. Zumindest sind sie nicht erkennbar. Doch Neurowissenschaftler haben bei Jugendlichen nachgewiesen, dass positive Reaktionen in sozialen Medien die gleichen Hirnregionen stimulieren wie der Genuss von Schokolade oder ein Geldgewinn.
Der bislang schwerste Fall von Identitätsdiebstahl in Deutschland spielte sich um Weihnachten 2016 ab: Eine 16-Jährige hatte Fotos eines 2013 gestorbenen Mädchens genutzt, um als vorgeblicher todkranker Fan von YouTube-Idol Dagi Bee schnell viele Abonnenten zu sammeln. Sie flog genauso schnell auf und bekam Hunderte von Hassnachrichten.
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In Victorias Scheinwelt gab es noch andere Menschen aus Samanthas Leben. Die beste Freundin der Britin bekam auch einen falschen Twitter-Account und wurde zur "Schwester", mit der sich Victoria Bornemann von Sommer 2012 an unterhielt.
Auch der Fake-Account hatte ein Bild vom Ausweis
"Sie hat sich die Zeit genommen, einen Account für eine Schwester anzulegen und hat sich dann selbst geantwortet. So krank." Der Victoria auf Twitter gab es noch mehr Glaubwürdigkeit. Sie postete auch ein Bild von Samanthas Ausweis, an das sich die Engländerin kaum noch entsinnen kann. "Das muss ich mal als Scherz gepostet haben."
Erst als Victorias Schwindel aufgeflogen war, wunderten sich einige, dass niemand die vermeintlich bekannte Frau von Twitter je getroffen hatte. Es gab ja viele, die vertraut mit ihr schrieben. Darunter auch Prominente, wie Rapper Casper, Klaas Heufer-Umlauf und vor allem Moderatorin Sarah Kuttner. Die nannte Victoria "eine meiner liebsten Followings" und schrieb ihr "Ich würde dich wählen. Und ehren."
Fake-Opfer richtete Aufklärungsseite ein
Kuttner ist ein gutes Beispiel dafür, dass auch Prominente nicht davor sicher sind, auf Fakes im Netz hereinzufallen. Drei bis vier Prozent aller aktiven Nutzer sind nicht echt, schätzte Facebook in seinem Transparenzbericht. In Netzwerken und Singlebörsen verlieben sich Menschen regelmäßig in Fake-Profile. Die Hamburger Kommunikationsdesignerin Victoria Schwartz gründete die Aufklärungsseite "realfakes.net", nachdem sie selbst auf eine Frau mit einem Männerprofil hereingefallen war.
Sarah Kuttner wollte auf Anfrage von t-online.de nicht Stellung nehmen, was den Twitter-Account für sie so besonders gemacht hat und ob sie Lehren daraus zieht. Auf Twitter hat sie der falschen Victoria einen letzten Gruß voller Enttäuschung geschickt.
Bei der echten Samantha überwiegen andere Gefühle. Sie weiß inzwischen von einem Foto von ihrer kleinen Nichte und ihrem Schwager. Sie hatte es in einer Instagram-Story gepostet, die bestimmt dazu war, bald wieder zu verschwinden. Aber Victoria hatte das Bild gesichert.
Auch Foto von Kind verbreitet
Samantha macht das wütend. "Das Bild des Kindes zu sehen hat mich abgestoßen. Das zeigt mir, dass die Person keinen Sinn für Moral oder Respekt vor anderen hat. Sie hat sich nur darum gekümmert, Aufmerksamkeit zu bekommen und im selbst gebauten Fantasieland zu leben."
Zur Fantasiefamilie von "Victoria Bornemann" gehörte auch Vater Peter und die Mutter, immer in Sorge um die Tochter, die als Schauspielerin von Essen-Kray aus London erobern will und dabei doch am Ende des Geldes regelmäßig noch viel Monat übrig hat.
Die falsche Victoria nannte sich zwischenzeitlich auch "Königin Victoria", sie postete ein Foto von Samantha auf einem Thron als "wahre Herrscherin über die sieben Königslande". Eine Prinzessinnen-Projektion ist ihre Geschichte aber nicht. Sie schrieb auch "Warum kann ich niemals schöne Dinge haben? – Die Victoria Bornemann Story". Und: "Lebe deinen Traum! (bekommt 3,50 die Stunde, um in einem stinkenden Kostüm Flyer zu verteilen)". Traurige Botschaften.
An Weihnachten Twitter-Account angelegt
Am 25. Dezember 2011 war der Victoria-Account auf Twitter angemeldet worden. Es war der erste Weihnachtsfeiertag, an dem jungen Leuten im Kreis der Familie oft langweilig ist. Es spricht aber wenig dafür, dass es ein spontaner Impuls war. Samantha hat eine Vermutung. "Ich denke, es ist jemand, der mich schon seit 2008 mit einem Fake-Account verfolgte."
Damals hatte jemand begonnen, allen Menschen Freundschaftsanfragen zu stellen, die auf Fotos mit ihr auftauchten. Aufgefallen war ihr das später. Sie selbst hatte die Anfrage einer Kitty Scofield auch angenommen, "ich dachte, das ist jemand von einer Party". 2015 fiel ihr ein ähnlicher Fall auf, eine Anfrage von jemandem, der vorgab, mit ihr bei einem Bodybuilding-Wettbewerb gewesen zu sein. War das Victoria?
Samantha vergaß den Vorfall wieder. Bis zum 24. Februar 2018, als in ihrem Postfach eine Nachricht aus Deutschland war. Es ist wahrscheinlich, dass sie diese Nachricht indirekt Sarah Kuttner zu verdanken hat.
Ein Hund weckte das Misstrauen
Tags zuvor hatte die Moderatorin ein Foto weitergeleitet, das Victoria gepostet hatte. Das Bild eines Hundes. Es hatte sich bei @SpeedleDum fast angekündigt, ein Tweet Anfang Februar liest sich wie ein Leitfaden ihrer Social-Media-Strategie: "Ich brauche dringend wieder ein Haustier, sonst wird mein Instagram noch zum Fashion- und Livestyleaccount". Victoria hatte dann vom Besuch im Tierheim geschrieben, vom Treffen mit dem süßen kleinen Hund. Der Hund gefiel auch Kuttner.
Doch der Vierbeiner war wieder eine Abweichung vom Drehplan. Die echte Samantha hat keinen Hund, und Victoria war nicht im Tierheim gewesen. Eine junge Frau hatte das Tier schon gesehen – im Instagram-Account der Besitzerin aus Denver. "LÜGEN-VICKY!!" tadelte Sarah Kuttner – und plauderte weiter mit ihr.
Samantha McCormick bekam am Tag darauf die Nachricht, dass jemand sich für sie ausgibt. Eine Rückwärtsbildersuche bei anderen Fotos hatte den Nutzer zu Samantha geführt, schrieb er.
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Bis heute macht Samantha immer neue Entdeckungen, was das alles bedeutet, wusste lange nichts vom inzwischen verschwundenen Facebook-Profil.
Instagram löschte sofort, Twitter reagierte nicht
Ein paar Stunden nach Samanthas Meldung an Instagram war die falsche Victoria Geschichte. Twitter schien für Samantha kein großes Problem zu sein, von ihren Fotos sah Samantha nichts. Doch im Mai legte "@SpeedleDum" wieder los. "Erstaunlich, was eine Dusche und Beine rasieren nach Wochen für das Selbstbewusstsein tun können", war Victorias erster Tweet. Und Samantha schrieb Twitter an. Einmal, zweifach, fünfmal. Automatisierte Antworten, kein Erfolg.
Am 23. Juni meldet sie sich schließlich selbst bei Twitter an, schreibt Follower von @SpeedleDum an, klärt über das Fake auf. #Speedledum wird zum Trendthema auf Twitter – und Victoria verschwindet.
Vielleicht liest die Person dahinter noch, was Samantha ihr zu sagen hat: Sie solle das Aus für einen neuen Start nutzen und die Fantasiespinnereien im Internet vergessen. "Geh raus, genießʾ die schöne Welt und triff Menschen von Angesicht zu Angesicht. Es ist immer noch Zeit, das Leben real zu schaffen, das du dir vorstellst. Viel Glück!"
- Eigene Recherchen
- Gespeicherte Tweets von @SpeedleDum seit 7. April 2017