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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Emily Cox in "37 Sekunden" Mein Vater, Musiker und Vergewaltiger
"37 Sekunden", so kurz dauert die Vergewaltigung in der gleichnamigen ARD-Serie mit Emily Cox. Sie wirft die Frage auf: Ab wann ist ein Übergriff ein Übergriff und wie weit gehen Menschen aus Liebe und Loyalität?
Die Serie beginnt mit der Nahaufnahme eines nackten, alten, weißen Männerpos, dessen Besitzer wenig später in einen See springt. Es ist der Hintern von Claras Vater Carsten Andersen (Jens Albinus). Es ist der Hintern des Mannes, der Claras beste Freundin Leonie (Paula Kober) nach dem Ende ihrer Affäre vergewaltigt – obwohl sie klargemacht hat: "Ich will das jetzt nicht."
Als Leonie Clara von der Vergewaltigung erzählt, möchte Clara herausfinden, was genau passiert ist. Sie bestärkt ihre Freundin darin, auf die eigene Wahrnehmung zu vertrauen, gegen den Täter vorzugehen und nicht daran zu zweifeln, ob ihr "Nein" womöglich nicht deutlich genug gewesen ist. Erst als Clara erfährt, dass der Vergewaltiger ihr Vater ist, wechselt sie die Seiten.
"Die Serie denkt nicht in klassischen Täterbildern"
Emily Cox ist die Schauspielerin, die Clara spielt. Mit t-online spricht sie über ihre herausfordernde Figur, die aus Loyalität Grenzen überschreitet, über sexuelle Übergriffe, Grautöne und darüber, warum Kommunikation ihr so viel bedeutet.
Laut Cox verhandelt die Serie "37 Sekunden" die Frage, ab wann ein Übergriff ein Übergriff ist: "Ich mag an der Serie, dass ein sehr komplexes Thema auf ebenso komplexe Weise erzählt wird", so Cox. Die Regisseurin Bettina Oberli habe gemeinsam mit den beiden Drehbuchautoren Julia Penner und David Sandreuter Figuren erschaffen, die authentisch seien. "Es geht um die Grautöne und darum, dass in uns allen tiefe Abgründe sind."
Clara glaubt daran, dass Täter sexueller Übergriffe bestraft werden müssen. Trotzdem hält sie im Fall ihres Vaters zu ihm. Emily Cox erklärt dieses Verhalten damit, dass die Serie nicht in klassischen Täterbildern denke: "Carsten ist nicht nur ein Täter, sondern er hat unterschiedliche Seiten. Er ist Claras liebevoller Vater, mit dem sie viele Erinnerungen hat. Erinnerungen, die sie nicht aufgeben will. Sie kämpft um ihre Vater-Tochter-Beziehung."
"Clara hat sich immer um Carsten gekümmert"
In einer späteren Folge bekommt Clara einen Anruf. Als sie auflegt, dreht sie sich zu ihrem Mann um und fragt: "Was soll ich machen? Er ist mein Vater." Sie eilt zu ihm. Er balanciert betrunken auf dem Balkongeländer und grölt "Carsten, Vergewaltiger". Clara holt eine Decke und legt sie um die Schultern ihres Vaters. Beide setzen sich auf den Boden. Carsten kuschelt sich mit gekrümmtem Oberkörper und angezogenen Beinen in den Schoß seiner Tochter. Sie summt beruhigend und hält seine Hand.
Im Gespräch mit t-online verrät Emily Cox, dass diese Szene ihr besonders in Erinnerung geblieben sei: "Clara hat sich immer um Carsten gekümmert. Es berührt mich, dass seine Tochter versucht, ihn aufzufangen."
Die Szene stellt aber nicht nur dar, wie es ist, wenn Kinder, die bereits früh einen Verlust erlitten haben, sich um ihre Eltern kümmern. "Carsten ist ein sensibler Typ, eigentlich kein Arschloch, und das macht die Serie so stark", erklärt Cox.
Flucht in die Fantasiewelt der perfekten Familie
Claras Figur erzählt die Hin- und Hergerissenheit eindringlich und zeigt, was es bedeutet, wenn der Mensch, der übergriffig ist, jemand ist, den man aus tiefstem Herzen liebt. Jemand, bei dem man sich so eine Tat nicht vorstellen kann. Clara will seine Tat nicht wahrhaben, weil sie ihre komplette Welt ins Wanken bringen würde.
Sie geht über Grenzen, die Emily Cox selbst niemals überschreiten würde: "Ich versuche alle meine Figuren immer von innen zu verstehen, sonst kann ich sie nicht spielen. Deswegen kann ich nachvollziehen, warum Clara die Dinge tut, die sie tut, und nicht bereit ist, ihre Familie zu opfern. Ich als Emily Cox kann aber gleichzeitig sagen, dass sie viel zu weit geht, um ihre Ziele zu erreichen."
Die Figur forderte Cox heraus, weil Clara krasse Abgründe hervorbringe. Während des Drehs sei sie aufgewühlt und emotional gewesen: "Für Clara habe ich Seiten in mir aktiviert, die ich normalerweise nicht lebe: dieses Dunkle, sehr Manipulative, sehr Gefährliche. Clara kennt keine Grenzen mehr." Prinzipiell, glaubt Cox, hätten wir alle auch dunkle Seiten in uns: "Wir leben gewisse davon aus und andere nicht."
"Hätten sie besser kommuniziert, wäre weniger kaputtgegangen"
Die Serie zeichnet den mühsamen Weg nach, den ein Opfer sexualisierter Gewalt gehen muss. Der noch steiniger ist, wenn der Täter ein gefeierter Musiker ist. Sie zeigt, dass der eigene Sinn für Gerechtigkeit durch Liebe und Loyalität verschwimmen kann. Zwischen den Zeilen macht sie noch ein weiteres Thema auf: das der fehlenden Kommunikation und Anerkennung von sexualisierter Gewalt – auf individueller und auf gesellschaftlicher Ebene.
"Leonie will, dass es Carsten leidtut, dass er seine Tat anerkennt. Hätten die Figuren früher miteinander gesprochen und besser kommuniziert, wäre weniger kaputtgegangen", erklärt Emily Cox. "Wir sollten als Gesellschaft aufhören, uns gegenseitig anzuschreien. Wir sollten in Ruhe miteinander sprechen, damit es aufhört, dass wir alle so wahnsinnig wütend aufeinander sind."
Die aus sechs Folgen bestehende Serie "37 Sekunden" ist seit dem 4. August 2023 in der ARD Mediathek verfügbar und wird am 15. und am 22. August um 22 Uhr im Ersten ausgestrahlt.
Sie sind selbst von sexualisierter Gewalt oder Missbrauch betroffen? Hier finden Sie Hilfe: Hilfe-Telefon Sexueller Missbrauch (0800 22 55 530) oder Hilfe-Telefon Gewalt gegen Frauen (0800 116 016).
- Gespräch mit Emily Cox
- Pressematerial zur Serie "37 Sekunden"
- Eigene Recherchen