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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Biathlon-Legende Groß "Im Sport ist die Wiedervereinigung deutlich besser gelungen als anderswo"
Den Mauerfall hat Ricco Groß 2000 Kilometer entfernt im schwedischen Schnee verfolgt. Die Folgen konnte der damals 19-Jährige da noch nicht abschätzen. Er musste seine Heimat Sachsen verlassen, komplett neu starten und wurde zu einem der ersten gesamtdeutschen Sport-Stars. Dabei half ihm ein besonderer Umstand.
Viermal Olympia-Gold, neunmal Weltmeister und insgesamt 28 Medaillen bei großen Titelkämpfen: Biathlet Ricco Groß gehört zu den erfolgreichsten deutschen Sportlern überhaupt. All diese Titel holte der gebürtige Sachse als Athlet des wiedervereinigten Deutschlands. Seine sportliche Sozialisation fand allerdings in der ehemaligen DDR statt. Aber nicht nur deshalb haben Mauerfall und Wiedervereinigung sein Leben nachhaltig beeinflusst.
t-online.de: Herr Groß, wo waren Sie am 9. November 1989, als die Mauer gefallen ist?
Ricco Groß: Ich war in Schweden, in Kiruna – also über 2000 Kilometer entfernt. Dort hatten wir mit der DDR-Juniorennationalmannschaft einen Trainingskurs. Ich konnte die Ereignisse in Deutschland nur im TV verfolgen – und zwar auf Schwedisch. Wir haben natürlich versucht, uns ein bisschen etwas herzuleiten, aber so richtig greifbar war das für uns in dem Moment noch nicht. Internet und Co. gab es ja damals noch nicht. Ich konnte auch nicht einfach zu Hause anrufen, weil das einerseits viel zu teuer gewesen wäre und wir sowieso kein Telefon hatten (lacht).
Ricco Groß holte als aktiver Biathlet vier Olympische Goldmedaillen. Nach seinem Karriereende 2007 arbeitete er u. a. als TV-Experte. Von 2015 bis 2018 war Groß Cheftrainer der russischen Biathlon-Herren. Aktuell arbeitet er in gleicher Position beim österreichischen Team.
Was war Ihre erste Reaktion?
Als wir die Bilder von der Mauer gesehen haben, haben wir uns gegenseitig angeschaut und gefragt: "Was ist denn da los?" Das kam für uns total unerwartet. Unglaublich in dem Moment.
Haben Sie da schon daran gedacht, was das für Folgen haben könnte?
Nein, dafür kam mir das zu unreal vor. Die Eindrücke haben sich erst verstärkt, als ich wenige Tage später wieder zu Hause war. Das war dann schon irgendwo überwältigend, weil man natürlich noch nicht gewusst hat, wo die Reise hingeht. Zudem war ich in meinem eigenen Modus – mit Schule und Leistungssport. Das war eine sehr spannende Zeit. Aber wenn man jung ist, ist es eh einfacher, sich auf neue Begebenheiten einzustellen. Und das war damals bei mir der Fall. Mein Sportklub, Dynamo Zinnwald (im östlichen Erzgebirge, Anm. d. Red.), wurde aufgelöst. Ich musste mich umschauen, wo man außerdem professionell Biathlonsport betreiben kann. So bin ich 1991 zum Stützpunkt nach Ruhpolding gekommen. Da hätte wohl niemand gedacht, dass ich fast 30 Jahre später immer noch dort bin (lacht).
Haben Sie damals darüber nachgedacht, mit Biathlon aufzuhören?
Nein. Zu dem Zeitpunkt war für mich schon klar, dass ich den Sport ausüben möchte, so lange es irgendwie geht. Und in Ruhpolding hatte ich gute Rahmenbedingungen. Von daher stand das nie zur Debatte.
Wie schwer ist Ihnen der Abschied damals gefallen?
Sehr schwer. Ich habe mein halbes Leben dort verbracht. Geholfen hat mir allerdings, dass ich nicht alleine nach Ruhpolding gegangen bin. Ein paar Freunde aus meiner alten Trainingsgruppe in Zinnwald haben es genauso gemacht. Da ist quasi ein Stück Heimat mit rübergegangen.
Hatten Sie dennoch Schwierigkeiten bei der Eingewöhnung in Bayern?
Nein, ehrlich gesagt eher weniger. Wir waren alle kommunikative Typen, weshalb uns das relativ leicht gefallen ist. Und natürlich hat der sportliche Erfolg dabei geholfen, schneller Fuß zu fassen.
Apropos "sportlicher Erfolg": Vor der Einheit hatten beide deutschen Staaten starke Biathlon-Teams. Dann wurden diese zusammengelegt. Welche Mannschaft war zur Wendezeit eigentlich besser?
Die BRD hat von einzelnen Spitzenathleten wie dem 1984-er-Olympiasieger Peter Angerer oder Fritz Fischer (1989 Gesamtweltcupsieger, Anm. d. Red.) gelebt. In der DDR war das Leistungsniveau breiter gefächert – mit der Generation ab Frank Ullrich (Olympia-Gold 1980, An. d. Red.) über Frank-Peter Roetsch (zweimal Olympia-Gold 1988, Anm. d. Red.) bis hin zum jungen Frank Luck (später fünffacher Olympia-Medaillengewinner, Anm. d. Red.).
Wie lief die Zusammenlegung dieser beiden Spitzenteams?
Rein sportpolitisch ist das sehr gut gelöst worden. Man hat gesagt: Wir wollen den Übergang so schnell wie möglich schaffen und die Nationalmannschaft wurde aus jeweils sechs Sportlern aus Ost und West zusammengestellt. Dann gab es Qualifikationsrennen, die letztendlich darüber entschieden haben, ob man im erstklassigen Welt- oder im zweitklassigen IBU-Cup an den Start gehen durfte.
Wurde die Wiedervereinigung in Biathlon besser gelöst als beispielsweise in der Politik?
Ja, im Biathlon wurde die Wiedervereinigung definitiv besser gelöst als in anderen Bereichen. Im Sport ist sie allgemein deutlich besser und schneller gelungen als anderswo.
Gab es teamintern nicht dennoch Reibereien, vielleicht sogar Neid, zwischen Sportlern aus Ost und West?
Das würde ich nicht sagen. Im Leistungssport geht es diesbezüglich einfach relativ fair zur Sache: Da gibt es am Anfang eine Stoppuhr und am Ende. Im Biathlon kommt noch ein Schießergebnis dazu. Und dann kommt eine Platzierung heraus. Am Ende ist klar, wer der Beste ist.
Sven Fischer hat verraten, dass von einigen westdeutschen Kollegen dennoch Sprüche à la "Wenn ihr nicht rübergekommen wärt, würde ich jetzt woanders stehen" gekommen sind.
Ehrlich gesagt hatte ich den Vorteil, direkt im Weltcup dabei zu sein. Also habe ich auch nicht mitbekommen, was auf anderer Ebene diskutiert worden ist. Solche Nebengeräusche hat es sicherlich gegeben, aber letztendlich konnte das jeder Sportler durch bessere Ergebnisse für sich klären.
Beide Teams waren in der Weltspitze. Wo waren die größten Gemeinsamkeiten und Unterschiede?
Beide Seiten hatten logischerweise ihre Vor- und Nachteile. Aber wir reden hier nicht von zwei komplett unterschiedlichen Systemen. In der BRD wurde allerdings mehr individuell trainiert und auch im Bereich Persönlichkeitsentwicklung mehr getan. In der DDR gab es eher kontrolliertes Gruppentraining.
Wie steht es mit der Förderung von Kindern und Jugendlichen. Sie haben drei nach der Wende geborene Söhne, die ebenfalls Biathlon betreiben und so den direkten Vergleich. War das DDR-System insgesamt besser?
Ja, das würde ich schon sagen. In der DDR war die Gemeinschaft ausgeprägter. Und das ist gerade im Jugend- und Juniorenbereich wichtig. Denn gerade da braucht man eine starke Mannschaft, um sich zu entwickeln. Mittlerweile kommen Top-Athleten nur noch raus, wenn das Elternhaus dahintersteht. Das Thema Spitzensportförderung steht erst einmal hintenan. Stattdessen sind das Engagement und der Geldbeutel der Eltern gefragt. Es geht darum, wie sie das Hobby ihrer Kinder mitfinanzieren können und auch selber Zeit und Interesse haben, dort mitzuarbeiten.
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Abschließend zurück zu Ihnen persönlich: Wären Sie auch ohne den Mauerfall und die Wiedervereinigung sportlich so erfolgreich geworden?
Das ist schwer zu sagen. Vielleicht wäre meine Karriere nicht so lange gegangen, weil es in der DDR eher untypisch war, so lange Leistungssport zu betreiben.