Mehr als 150 Journalistinnen und Journalisten berichten rund um die Uhr für Sie über das Geschehen in Deutschland und der Welt.
Zum journalistischen Leitbild von t-online.Francesco Friedrich bei Olympia Der Anschieber
Francesco Friedrich ist Rekordweltmeister und Doppel-Olympiasieger von 2018. Am Dienstag tritt er im Zweierbob um eine Medaille an. Den Weg dorthin hat er akribisch geplant.
Als das Handy klingelt, erreicht der Transporter gerade die deutsche Grenze. Im Frachtraum, sicher festgezurrt auf Schienen, liegt der Vierer-Bob, mit dem Francesco Friedrich fünf Stunden zuvor an diesem Novembersonntag den Weltcup in Innsbruck gewonnen hat. Die Gratulation des Reporters nimmt der Bobpilot dankend an. Auf die Frage nach seinem aktuellen Gefühlszustand sagt Friedrich nur: "Ich bin ziemlich zufrieden."
Ziemlich zufrieden? Nun ja. Auf der Igls-Bahn hat der 31-Jährige gerade an zwei aufeinander folgenden Weltcup-Wochenenden die Weltcup-Erfolge 53, 54, 55 und 56 im Zweier und Vierer eingefahren. "Der Pirnaer Bob-Dominator ist auch zu Beginn des olympischen Winters wieder das Maß der Dinge", feiert die "Sächsische Zeitung" ihren Lokalmatador.
Und was sagt Friedrich? "Am zweiten Rennwochenende hat die Spannung nachgelassen, da hatten wir im ersten Vierer-Lauf einen Fehler." Für eine ausgelassene Feier sah Francesco Friedrich, den alle nur "Franz" nennen, keinen Anlass. Lieber kurbelt er mit seiner Mannschaft noch 642 Kilometer durch die Nacht.
Wer nach dem Erfolgsgeheimnis des dreizehnmaligen Weltmeisters und zweimaligen Olympiasiegers (2018 im Zweier und Vierer im südkoreanischen Pyeongchang) sucht, findet die Antwort auch in dieser Fahrt. Friedrich hätte mit seinem Team den Erfolg im Teamhotel "Isserwirt" feiern können, um dann am nächsten Tag ausgeruht den Heimweg anzutreten. Nicht mit ihm. "Dann hätten wir mit Blick auf die Spiele in Peking einen Tag verplempert."
- Olympische Spiele in Peking: Das ist der Medaillenspiegel
"Franz ist jemand, der unfassbar akribisch arbeitet", sagt Bundestrainer René Spies, Ende der 1990er- und Anfang der 2000er-Jahre selbst einer der besten deutschen Bobpiloten. "Ich kenne keinen anderen Bobfahrer, der alle Facetten unserer Sportart so professionell bedient. Von der Athletik über das Training im Eiskanal bis zum Kümmern um das beste Material."
Was Spies meint, war in diesen Wettkampf- und Trainingstagen in Innsbruck zu sehen. Durch die strengen Corona-Maßnahmen im Hochinzidenzgebiet Tirol lebte das deutsche Team ohnehin in einer Blase, pendelte nur zwischen Leichtathletik-Halle, Bahn und Hotel. Friedrich nahm dies kaum wahr: "Für Besuche in der Altstadt wäre sowieso kaum Zeit gewesen."
Stattdessen: Training, Training, Training. Man hätte denken können, dass sich das "Team Friedrich" auf ein großes Leichtathletik-Event vorbereitet. Mit Hürdenläufen, Trampolin-Sprüngen und Krafttraining. Dabei überraschen die Leistungen der Anschieber nicht – viele Bob-Teams setzen seit Jahren auf ehemalige Leichtathleten. Thorsten Margis, 2018 Anschieber bei Friedrichs Olympiasieg im Zweier, kommt aus dem Zehnkampf. Candy Bauer, Anschieber in Friedrichs Gold-Vierer, war einst Kugelstoßer.
Wirklich verblüffend indes der Chef: Friedrich schultert im Krafttraining bei Kniebeugen 200-Kilo-Hanteln und kann seinen Oberkörper nach hinten biegen wie ein Yoga-Lehrer. "Franz bringt wahnsinnige athletische Fähigkeiten mit", sagt Spies.
Aus dem Lautsprecher tönt ein Podcast
Nach dem Abendessen wechselte das "Team Friedrich" Abend für Abend in den zur Werkstatt umfunktionierten Keller des Hotels. Mit feinem Schleifpapier wurden die Kufen poliert, aus dem Lautsprecher tönte ein Podcast mit Steuerspartipps. Beim Material zählt für Friedrich nur das Beste, für einen Spitzensatz Kufen zahlt er bis zu 15.000 Euro. In Innsbruck testete seine Crew erstmals neue Rennschuhe, entwickelt von Sponsor und Partner BMW. Unter dem Vorderfuß liegt eine Platte mit speziellen Spikes, was die Zugkraft erhöhen soll. "Ich war immer ein Materialtüftler", sagt Friedrich.
Wer für ihn arbeitet, muss mit anpacken, genau wie der Chef. Das ist anstrengend – und auch nicht ungefährlich. In Innsbruck riss sich Anschieber Alexander Rödiger, der erst im Mai zur Friedrich-Crew stieß, beim Ausladen die Bizepssehne. Eine OP folgte, Rüdiger fiel wochenlang aus. Die Anschieber sind seine Freunde, sagt Friedrich, was die Botschaft, die er vor den Spielen verkünden muss, noch schwerer macht: Einem Anschieber aus seiner Crew wird er sagen müssen, dass er weder im Zweier noch im Vierer in Peking dabei sein wird. Wie tückisch solche Entscheidungen sein können, zeigt das Beispiel Anderl Ostler, 1952 Doppel-Olympiasieger im Zweier und Vierer.
Mit 472 Kilo zu Gold
Der lebenslustige Wirt und Metzger aus Grainau warf nach schwachen Trainingszeiten langjährige Teamgefährten aus seinem Bob und rekrutierte eine neue Anschieber-Crew allein nach den Gesetzen der Physik: Je schwerer, je schneller, noch gab es keine Gewichtsbeschränkungen. Mit 472 Kilo Lebendgewicht steuerte der Bayer sein betagtes Gefährt zum Gold. Viele Grainauer verziehen Ostler dieses Manöver nie, warfen ihm Kameraden-Verrat vor.
70 Jahre später wird Friedrich so etwas nicht passieren, das ist sicher. Akribisch wertet Friedrich jede Zeit in jeder Crew-Kombination aus, sein Heimtrainer Gerd Leopold filmt jeden Start. Es geht um maximale Beschleunigung und bestmögliches Einsteigen bei 40 km/h. So facht jedes Rennen den internen Konkurrenzkampf an. "Es wird wehtun, jemandem zu sagen, dass er nicht dabei ist. Aber letztlich machen wir Leistungssport", sagt Friedrich.
Doch weder Athletik und Hingabe noch Akribie und Teamgeist können die Erfolgsserie Friedrichs allein erklären. Die Historie kennt Legionen von hochtalentierten Sportlern, die ewige zweite Sieger blieben, weil sie im entscheidenden Moment an ihren Nerven scheiterten. Nicht so Friedrich. "Ich bin jetzt seit 30 Jahren in der Bobszene dabei. Aber ich habe noch nie einen Piloten mit diesem Killerinstinkt erlebt", sagt Spies. Vor einem wichtigen Wettkampf ziehe sich sein Schützling immer weiter zurück: "Er redet immer weniger, man spürt, dass er sich nur noch auf das Rennen konzentriert. Und mit dieser Konsequenz ruft er dann im entscheidenden Moment seine Leistung zu 100 Prozent ab."
Sirene aus einem Horrorfilm als Anheizer
Etwas psychologische Kriegsführung gehört dazu. Unmittelbar vor seinem Start lässt Friedrich gern über die Lautsprecher der Anlage die Sirene aus dem Horrorfilm "The Purge" einspielen. Der Ton signalisiert, dass nun für zwölf Stunden alle Verbrechen erlaubt sind. Auf der Bahn heißt die schlichte Sirenen-Botschaft: Jetzt kommt der Franz. Der Beste. "Ich glaube, wenn die Gegner diese Sirene hören, dann macht das was mit denen", sagt Spies.
Berlin, ein Tag Ende August. Francesco Friedrich kommt zum Interview in die Lobby des Marriott-Hotels. Auf dem Tisch liegt ein von allen Bobfahrern signierter Helm, das Geschenk für eine Sponsoren-Veranstaltung am Abend. Im persönlichen Gespräch wirkt Friedrich nicht wie ein Dominator, er spricht leise und nachdenklich, der Akzent seiner sächsischen Heimat ist unverkennbar.
Wir reden über Familienglück, 2014 heiratete er seine Jugendfreundin Magdalena, das Paar hat zwei Söhne. Friedrich lehnt Homestorys strikt ab, Privates bleibt privat. Wir sprechen über den harten Kampf um die Finanzierung seines Sports. BMW, DHL und Nudossi sponsern den deutschen Verband, das "Team Friedrich" kann zudem auf seine Toppartner Ideal Versicherung, die Viactiv Krankenkasse sowie eine regionale Sponsoren-Allianz mit der Sparkasse Sachsen setzen.
Olympia 2026 als Ziel
Den Schriftzug "Eine Region schiebt an" betrachtet Friedrich als Verpflichtung. Er backt Brot für die örtliche Landbäckerei, verlost Helme und Mützen bei Wohltätigkeitsveranstaltungen. Wir reden über den Klimawandel: "Wer weiß, ob es unseren Sport in zwanzig Jahren überhaupt noch gibt?" Friedrich plädiert für nachhaltige Olympische Spiele: "Statt neue Anlagen zu bauen, sollte man die bestehenden sanieren. Was spricht in Zeiten schneller Verkehrsmittel gegen bundesweite Spiele? Ein Wettkampf in der Region, Siegerehrung dann in Berlin." Wir sprechen über seine Corona-Infektion im April 2021 ("Zwei, drei Tage fühlte ich mich schlapp, dann ging es wieder"). Zur Zukunft nach Peking sagt er: "Ich möchte weitermachen. Die Spiele in Cortina d’Ampezzo 2026 wären ein idealer Abschluss. Da könnten wir zwei Reisebusse nur mit Familie, Freunden und Sponsoren besetzen."
Und dann sprechen wir über den Moment, der seine Karriere hätte beenden können, bevor sie wirklich begann. An diesem Tag im November 2006 steuert der 16-jährige Francesco Friedrich einen Zweier-Bob durch die Heimatbahn in Altenberg, es ist erst seine siebte Fahrt als Pilot. Hinter ihm sitzt sein vier Jahre älterer Bruder David, der ein Jahr zuvor in einem Viererbob schwer stürzte, drei Wochen mit einem schweren Schädelhirntrauma im Koma lag. In Kurve 13 verdreht sich Francescos Helm, er sieht nichts mehr, der Bob kippt. Während er nur Prellungen davonträgt, verletzt sich David erneut schwer, bricht sich einen Rückenwirbel. Spätestens jetzt hätte man verstehen können, wenn die Familie Friedrich künftig um jede Bobbahn einen großen Bogen gemacht hätte.
„Deutschlands schnellste Bob-Brüder“
15 Jahre nach dem schweren Sturz meldet sich David Friedrich pünktlich auf die Minute zum vereinbarten Video-Telefonat aus Innsbruck. Nur einen Tag nach der Abreise seines Bruders hat David, verantwortlicher Trainer der B-Nationalmannschaft im Skeleton-Intercontinentalcup, das Trainingslager für sein Team in Tirol aufgeschlagen. Über den Unfall sagt er: "Nach dem zweiten Sturz hatte ich in der Tat meine Karriere quasi beendet. Doch dann hat mich mein Bruder überredet wieder einzusteigen: ‚Du bist fit, ich brauche einen Anschieber.‘" Das Duo raste zum Silber bei der Junioren-WM 2011, "Bild" feierte "Deutschlands schnellste Bob-Brüder".
"Aber ich habe dann doch aufgehört, da ich nach den Fahrten oft schwere Migräne-Anfälle hatte, mir war total übel. Wahrscheinlich hat sich durch den Rückenwirbelbruch ein Nerv eingeklemmt." Hat er jetzt Angst um seinen Bruder? "Nein, Franz ist Vollprofi. Er hat das im Griff. Er weiß genau, was er tun muss. Er achtet auf alles." Wie Bundestrainer Spies preist er Francescos "unheimliche Athletik". In den Jugendjahren habe man damit nicht rechnen können. "Ich war der bessere Athlet." Mit Disziplin und Ehrgeiz habe sein Bruder an seiner Fitness gearbeitet, sich von Rückschlägen nie entmutigen lassen. "Franz bleibt immer total fokussiert, lässt sich durch äußere Umstände nie aus der Ruhe bringen. Diese Begabung habe ich leider nicht. Sonst wäre meine Karriere vielleicht anders verlaufen."
Wissenschaftler sprechen von Resilienz, von der Fähigkeit, negativen Einflussfaktoren standzuhalten. Erst die Rückschläge, so scheint es, haben Francesco Friedrich zu "Friedrich, dem Großen" gemacht. "Am Anfang meiner Karriere hat mir ein Trainer gesagt, dass mein Potential nicht reicht", sagt er. Also trainierte Friedrich noch härter, arbeitete als Bademeister auf 400-Euro-Basis, um seinen Sport zu finanzieren.
2011, bei seinem ersten Weltcup in St. Moritz, stürzte sein Anschieber, Friedrich raste allein die Bahn runter – Disqualifikation. Zwei Jahre später wurde er genau auf dieser Bahn jüngster Weltmeister der Bob-Historie. Bei Olympia das gleiche Bild: Desaster in Sotchi 2014 mit Rang acht im Zweier und Platz zehn im Vierer – vier Jahre später der Triumph von Pyeongchang mit Doppel-Gold. "Sotschi war der Tiefpunkt. Da habe ich mir geschworen, dass ich alle Risiken, die ich steuern kann, minimieren will."
Lagerkoller? Nicht mit Friedrich
Umstände, die nicht zu ändern sind, akzeptiert Friedrich klaglos. Die drei Wochen Olympia-Vorbereitung in Peking im vergangenen Oktober mit dem strikten Verbot, ohne Begleitung das Hotel oder die Bahn zu verlassen, hätten bei seinem Team einen Lagerkoller auslösen können. Friedrich sagt nur: "Das war gar nicht so schlecht, denn so konnten wir uns auf die Bahn, das Training und das Materialtesten konzentrieren. Alles andere war ohnehin Nebensache. Wir haben uns dort auf Olympia vorbereitet und nicht auf Landesjugendspiele oder irgendwas."
Spies kennt diese Einstellung von den Spielen in Pyeongchang. Vor vier Jahren klagten viele deutsche Sportler über zu harte Matratzen und baten um Abhilfe: "Als wir Franz gefragt haben, ob er mit dem Bett klarkommt, hat er uns angeguckt, als würde er die Frage gar nicht verstehen. Er hat gesagt, ‚ist doch alles gut‘, der war schon im Tunnel." Spies ist überzeugt, dass man seinen besten Mann in Peking auch auf ein Brett betten könnte: "Der zieht trotzdem sein Ding durch."
Sein Ding, das ist das erneute Doppel-Gold. "Dann wäre er auf einer Ebene mit André Lange. Das treibt meinen Bruder an", sagt David Friedrich. Noch ist Lange der einzige Bobpilot der Welt, der viermal Olympia-Gold gewinnen konnte. Noch. Auf die Sirene kann sich die Konkurrenz in Peking schon mal gefasst machen. "Daran arbeiten wir", sagt Friedrich. Und lächelt.
Magazin "Peking.22"- 148 Seiten Wintersport pur. Erhältlich am Kiosk. Und online unter: www.2022magazin.de
Dieser Text erschien zuerst im Magazin "Peking.22".
t-online bietet Ihnen alle Highlights der Olympischen Spiele auch im Video an. Eine erste Auswahl finden Sie hier angehängt.
DSV-Adler holen in letzter Minute Bronze
Hier finden Sie alle weiteren Video-Highlights der Olympischen Spiele