WM-Quali: England zittert Wie kaputt ist der englische Fußball wirklich?
Von Marc L. Merten
England ist stolz auf seine Geschichte und zeigt seine Relikte der ganzen Welt. Die sagenumwobenen konzentrischen Steinkreise von Stonehenge. Die Ansammlung königlicher Gräber in Westminster Abbey. Ja, selbst Queen Elisabeth II. ist, wie Manche spotten, ein solches Überbleibsel längst vergangener Tage. So wie Roy Hodgson, der Trainer der englischen Nationalmannschaft.
Ein Fußballlehrer, der seit 1976 auf den Trainerbänken Europas Platz nimmt. Ein unbestrittener Fachmann alter Schule, der seine größten – und einzigen – Erfolge in Schweden und Dänemark feierte, Ende der 70er, Ende der 80er und kurz noch einmal aufflackernd im Jahr 2001. Ein Trainer, dem kurz vor der Rente als Höhepunkt seiner Karriere die Leitung der Three Lions übertragen wurde.
Hodgson steht buchstäblich vor der letzten Weggabelung seines Schaffens. Besiegt England am Dienstagabend in Wembley Polen, qualifiziert sich das Mutterland des Fußballs nach langem Zittern doch noch direkt für die WM 2014. Springen jedoch keine drei Punkte dabei heraus, muss das Team wohl den Weg in die Relegation antreten. Das Turnier in Brasilien soll Hodgsons ganz persönlicher Zuckerhut auf seine Karriere sein. Doch noch kann ihm sein Team die Suppe kräftig versalzen.
Keine Optionen. Keine Perspektive. Keine Zukunft?
Die Three Lions sind längst keine Fußball-Supermacht mehr. Moderner Fußball? Fehlanzeige! Junge englische Talente, die von internationalen Top-Klubs gejagt werden? Eine eher rhetorische Frage. Stattdessen ist nicht nur der Trainer der Nationalmannschaft ein Relikt, sondern auch dessen Spieler. Noch immer dürfen Frank Lampard (35), Steven Gerrard (33) oder auch Michael Carrick (32) mitwirken.
Und dann wäre da noch Rickie Lambert. Der arme Junge kann eigentlich nichts dafür, dass er zum Paradebeispiel für Englands größtes Problem geworden ist. 92 Tore in 170 Spielen für Southampton sprechen für sich. Wäre der Stürmer nicht im September mit 31 Jahren überhaupt das allererste Mal in den Kader seines Landes berufen worden, weil Wayne Rooney verletzt passen musste. Das wäre fast so, als ob Joachim Löw, weil Miroslav Klose und Mario Gomez verletzt sind, Gerald Asamoah reaktivieren würde, anstatt Max Kruse oder gar Stefan Kießling zu nominieren. Das Problem ist: England hat keinen Kruse. Und schon gar keinen Kießling. Keine Optionen. Keine Perspektive. Keine Zukunft?
Wie passend, dass die FA, der englische Fußball-Verband, derweil tatsächlich überlegt, wie sie einen 18-jährigen Belgier namens Adnan Januzaj dazu überreden kann, die nächsten Jahre auf Einsätze im Team seines Heimatlandes zu verzichten. Denn dann könnte das Supertalent von Manchester United "schon" 2018 für England auflaufen. Wie verzweifelt muss eine Nation sein, um ihre Hoffnungen auf eine bessere Nationalelf in einen belgischen Teenager zu setzen, der nichts mit England zu tun hat und gerade einmal drei Einsätze in der Premier League vorzuweisen hat?
Kick and Rush in Vollendung
Kaum verwunderlich also, dass in England parallel zu dieser bizarren Idee die Kritik an der Talentförderung und an den Trainern immer lauter wird. Der Franzose Patrick Vieira, der zu seiner aktiven Zeit über 300 Spiele in der Premier League bestritt, ist heute Jugendtrainer bei Manchester City. Und einer der schärfsten Kritiker des englischen Nachwuchssystems. Er sagt: "In den letzten Jahren hat sich das Spiel sehr verändert. Nur nicht die Trainingsmethoden im englischen Fußball."
Gleiches gilt für die Spielweise der Mannschaft, die für alle Vereine das Vorbild sein sollte: die Three Lions. Bestes Beispiel war das enttäuschende 0:0 im September in der Ukraine. Kick and Rush in Vollendung, von Hodgson persönlich angeordnet und hinterher sogar noch vehement von ihm verteidigt. Kaum vorstellbar, dass Vicente del Bosque oder Joachim Löw sich je hinstellen und erzählen würden, Kick and Rush sei die Spielform, die sie für Spanien oder Deutschland als die Richtige erachten würden.
Ein Talent, ein Talent!
In diesem England also, einem England voller Relikte, erstaunte es daher umso mehr, dass es vergangenen Freitag ausgerechnet im ersten Entscheidungsspiel um die WM-Qualifikation gegen Montenegro zu einer Art Revolution kam. Nicht nur, dass die heimischen Kicker in Wembley überzeugend 4:1 gewannen. Es machte hinterher sogar der Begriff "kreatives Offensivspiel" die Runde.
Bezeichnend war für dieses Spiel, dass Hodgson das erste Mal in seiner Amtszeit ein Risiko eingegangen war. Er hatte renommierten Spielern wie James Milner den Einsatz verweigert und einem – Achtung! – Talent eine Chance gegeben. 90 Minuten später war Andros Townsend, ein 22-Jähriger Flügelflitzer der Tottenham Hotspur, der Matchwinner. Und am nächsten Morgen in aller Munde als Hoffnungsträger einer hoffentlich bald heranwachsenden, neuen Generation großartiger Fußballer. Dafür aber muss sich Townsends Märchen erst mal gegen Polen wiederholen. Denn nur dann könnte in England ein Prozess des Umdenkens beginnen.
Redknapp und seine Idee mit Rodgers
Beinahe hätte dieser Prozess schon letztes Jahr im Mai beginnen können. Dank eines weiteren Relikts des englischen Fußballs: Harry Redknapp. Der wie Hodgson 66-Jährige galt im Frühjahr 2012 als eigentlicher Favorit auf den Posten des Nationaltrainers. Doch er wurde es nicht. Dabei stand Redknapp schon Gewehr bei Fuß. Er hatte einen Plan. Er wollte Team-Manager der Three Lions werden und einen gewissen Brendan Rodgers als Trainer installieren.
Rodgers ist 40 und zählt zu den wenigen aufstrebenden, modernen Trainern der Premier League. Er steht für offensiven, attraktiven Fußball. Gemeinsam wollten Redknapp und er seine Spielidee auf die englische Nationalmannschaft übertragen. Doch Redknapp und die FA überwarfen sich. Rodgers übernahm den FC Liverpool, mit dem er nun – zusammen mit dem FC Arsenal – die Premier League anführt. Und Hodgson wurde Nationaltrainer.