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Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Blamables WM-Aus Flicks Worte sprechen Bände
Das kommt einem doch bekannt vor: Deutschland fährt nach der WM-Vorrunde wieder heim. Wie konnte das passieren?
"Im Erfolg macht man die größten Fehler." Wer Zweifel an diesem Sprichwort hat, sollte sich die Entwicklung der deutschen Nationalmannschaft in den letzten Jahren anschauen. Auf den WM-Titel 2014 folgte ein EM-Halbfinale 2016, ein WM-Vorrundenaus 2018, ein EM-Achtelfinale 2021 und ein WM-Vorrundenaus am gestrigen Donnerstag.
Alle Jahre wieder reist der DFB-Tross vorzeitig in die Heimat, muss die Gründe für die Enttäuschungen erklären und aufarbeiten. Die Symptome sind andere. Mal sind es taktische Fehler des Trainers, mal ist es eine schlechte Chancenverwertung oder fehlendes Glück. Die Ursache ist aber die gleiche. Und das ist die Nachwuchsarbeit. Denn dort hat der DFB jahrelang gravierende Fehler gemacht. 19 Monate vor der Europameisterschaft im eigenen Land herrscht Alarmstufe Rot.
Die Basics fehlen
Die Worte von Bundestrainer Hansi Flick auf der Pressekonferenz nach dem Ausscheiden sprachen Bände: "Es ist wichtig für die deutsche Zukunft, dass man in der Ausbildung verschiedene Dinge anders macht. Wir reden schon seit, was weiß ich, wie viel Jahren über einen Neuner, den wir brauchen, über spielstarke Außenverteidiger. (…) Was den deutschen Fußball ausgezeichnet hat, war, dass wir verteidigen konnten. Das sind Elemente, die wir für den Nachwuchsbereich brauchen. Das sind die Basics." Und diese Basics fehlen. Das Einfache, die Grundtugenden.
Flick führte die deutschen WM-Gruppengegner Spanien und Japan als Beispiele an, wo diese Ausbildung gegeben ist. Wo die Spieler auch taktisch gut geschult sind. Es gibt weitere Beispiele. Auch Dänemark oder die Schweiz haben in der Nachwuchsarbeit dem DFB den Rang abgelaufen. Dass eine Fußballnation wie Deutschland so hinterherhinkt, ist ein Armutszeugnis.
Die Bundesligisten kaufen lieber Talente aus Frankreich, England oder den Niederlanden, als ihren eigenen Nachwuchskräften zu vertrauen. Weil sie besser sind.
Beispiele der Fehler
Im Nachwuchsbereich wurde den Spielern zu viel abgenommen. Es klingt vielleicht stumpf und abgedroschen, aber manchen Talenten fehlt es an der Erfahrung "harter Arbeit". Sie opfern ihre halbe Jugend, trainieren teilweise mehrmals täglich, aber eben jenes Training kann nicht alles ersetzen. Die Folge: Das Durchsetzungsvermögen leidet und darunter auch in Teilen die Einstellung. Drucksituationen werden schneller zu einem Moment der Überforderung.
Eine der wenigen Ausnahmen dabei ist Jamal Musiala, der sich in jeder WM-Sekunde gegen einen Misserfolg aufbäumte. Die starke Ausbildung Musialas geht allerdings nicht auf das deutsche Konto, sondern auf das britische. Fast seine komplette Zeit im professionellen Nachwuchsfußball verbrachte er auf der Insel.
Doch neben den Versäumnissen in der menschlichen Aus- und Weiterbildung wurden auch auf dem Rasen Fehler gemacht. Ein Beispiel: Ein hochtalentierter Außenverteidiger wird ins zentrale Mittelfeld gezogen, weil er besser ist als der Konkurrent. Da er im zentralen Mittelfeld mehr Einfluss auf das Spiel nehmen kann, werden die Ergebnisse des Teams besser und der Spieler bleibt auf seiner Position. Genau das Gleiche passierte bei mehreren Mannschaften und am Ende stehen mehrere talentierte Mittelfeldspieler da, aber keine hochklassigen Außenverteidiger.
Experimente rechts hinten
Das Ergebnis dieser Fehler war in den vergangenen Jahren oft zu sehen. Die Frage, wer rechts oder links hinten spielt, beherrschte die Berichterstattung vor den großen Länderspielen mehr als das offensive oder defensive Mittelfeld. Joshua Kimmich kann ein Lied davon singen, wie oft über seine Position in der Aufstellung debattiert wurde.
Ob 2018, 2021 oder 2022, in jedem Turnier kam die Frage auf, wo der vielseitige Akteur des FC Bayern spielen soll. Und da liegt das Problem. Es fehlte die klare Alternative, der "No-Brainer". Ein Spieler, der die klare erste Wahl rechts hinten ist. Wozu das führt, haben die drei Aufstellungen Deutschlands in Katar gezeigt.
Hansi Flick hat in drei Spielen drei verschiedene Rechtsverteidiger aufgeboten. In Spiel eins war es Niklas Süle, gelernter Innenverteidiger. In Spiel zwei war es Thilo Kehrer, gelernter Innenverteidiger. In Spiel drei war es Joshua Kimmich, der eigentlich im Mittelfeld eingeplant ist.
Seitdem der 57-Jährige im Amt ist, hat er auf verschiedene Arten und Weisen versucht, das Problem zu lösen. Monatelang probierte er Jonas Hofmann auf dieser Position aus, der in Mönchengladbach viel offensiver spielt. Aber der Bundestrainer hoffte, dass Hofmann auch in der Abwehr funktionieren würde. Kurz vor der WM musste er einsehen, dass sein Projekt gescheitert war. Seine andere Option war meist der vielseitige Innenverteidiger Thilo Kehrer, der sich gegen Spitzenteams oft als Schwachstelle entpuppte.
Für das Turnier in Katar nahm der Bundestrainer dann Lukas Klostermann mit. Ein rechter Verteidiger mit internationaler Erfahrung – aber ohne Spielpraxis. Klostermann war monatelang verletzt, hatte seit Anfang August keine Minute mehr Fußball gespielt.
Einen Hoffnungsschimmer bekam Flick kurz vor der WM, als Niklas Süle beim BVB ein paar starke Auftritte rechts in der Viererkette zeigte. Nach dem Spiel gegen Japan war dieses Experiment auch wieder Geschichte.
Wo ist die Balance?
Dem deutschen WM-Kader fehlte es vor allem an Balance. Im Mittelfeld musste Hansi Flick unbequeme Entscheidungen treffen und gute Spieler daheim lassen. Die Anzahl an unbequemen Entscheidungen wäre sogar noch größer gewesen, hätten sich Spieler wie Marco Reus, Timo Werner oder Florian Wirtz nicht verletzt. Oder Toni Kroos nach der EM vergangenes Jahr seinen Rücktritt bekannt gegeben.
Auf anderen Positionen musste er jene Entscheidungen nicht treffen. Im Sturmzentrum zum Beispiel. Es war ein Segen, dass Werder Bremens Trainer Ole Werner Niclas Füllkrug in die Form seines Lebens beförderte, sodass Flick tatsächlich einen "echten Neuner" zur Verfügung hatte. Es fehlen die Luxusprobleme.
Wer einen Blick auf den französischen WM-Kader wirft, sieht eine vor individueller Qualität strotzende Mannschaft. Dabei fehlen folgende Spieler verletzt: Karim Benzema, N'golo Kanté, Lucas Hernández, Paul Pogba, Christopher Nkunku, Presnel Kimpembe, Corentin Tolisso, Mike Maignan.
Dazu gibt es eine lange Liste talentierter Akteure, die es definitiv in den DFB-Kader geschafft hätten, von Frankreichs Nationaltrainer Didier Deschamps jedoch eine Absage erhielten.
Wie geht es jetzt weiter?
All diese Probleme hat der DFB erkannt. Das "Projekt Zukunft" soll die Wende bringen. Für eine erfolgreiche WM 2022 kam es aber zu spät. Und für die Heim-EM 2024? Das wird die Zeit zeigen. Mit etwas Voraussicht hat Hansi Flick einige Talente mit nach Katar genommen, damit sie Turniererfahrung sammeln. Armel Bella-Kotchap (20 Jahre), Youssoufa Moukoko (18), Jamal Musiala (19) und Karim Adeyemi (20). Florian Wirtz (19) wäre ein weiterer gewesen, hätte ihn nicht ein Kreuzbandriss gestoppt.
Abgesehen von Musiala waren die genannten Nominierten eher Ergänzungsspieler, die kaum oder gar nicht zum Einsatz kamen. In anderthalb Jahren könnte ihre Rolle bereits ganz anders aussehen. Entscheidend wird jedoch sein, dass Flick Lösungen für die anderen Problemstellen findet.
Dabei hilft es dem Bundestrainer ganz und gar nicht, dass er bis zu den EM-Spielen kein einziges Pflichtspiel hat. Deutschland ist als Gastgeber bereits für die Europameisterschaft qualifiziert. Die Frage ist nur, wie lange die DFB-Auswahl dann im Turnier bleibt.
- Eigene Beobachtungen und Recherchen
- Pressekonferenz mit Hansi Flick in der Nacht vom 01.12 bis zum 02.12.