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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Deutschland in der Krise Das ist Hansi Flicks größter Hoffnungsschimmer
Die deutsche Nationalmannschaft stolpert aktuell von einer Verlegenheit in die nächste. Hansi Flick steht unter Druck. Helfen kann jetzt vor allem İlkay Gündoğan.
Dass die Partie der deutschen Nationalmannschaft am Dienstagabend gegen Kolumbien (ab 20:45 Uhr im Liveticker bei t-online) kein Endspiel für Bundestrainer Hansi Flick darstellt, machte Rudi Völler am Wochenende erneut deutlich. "Natürlich wird Hansi Flick Trainer bleiben", betonte der DFB-Sportdirektor. "Das steht nicht zur Debatte."
Doch genau die ist schon längst entfacht. Die deutsche Nationalmannschaft steht ein Jahr vor der Europameisterschaft im eigenen Land mit dem Rücken zur Wand. Auf das blamable Vorrunden-Aus bei der WM in Katar im vergangenen Dezember folgte keine Wende. Schlimmer noch: Bei den vier Testspielen danach holte das Team nur einen Sieg, verlor dafür aber im März gegen Belgien und zuletzt gegen Polen. Dazwischen gesellte sich ein Harakiri-3:3 gegen die Ukraine.
Bundestrainer Hansi Flick ist angezählt. Nicht nur, aber auch, weil ihm zuletzt eine seiner wichtigsten Komponenten fehlte: İlkay Gündoğan. Der 32-Jährige konnte aus privaten Gründen nicht an den Partien im Frühjahr teilnehmen. Bei der aktuellen Länderspielreise stieß er aufgrund des Champions-League-Finales später zur Mannschaft dazu.
Dennoch ist Gündoğan Flicks größte Chance auf ein Happy End im kommenden Sommer. Im ersten Schritt aber vor allem für die Partie gegen Kolumbien.
Kapitän Gündoğan führt City zum Triple
Denn mit dem Mittelfeldakteur kehrt der zentrale Dreh- und Angelpunkt der DFB-Elf ins Team zurück. Und vor allem der Spieler, der einer Mannschaft aus teilweise hochgradig verunsicherten Stars sowie einigen hoffnungsvollen Talenten das Sieger-Gen einimpfen kann.
Der Grund dafür liegt auf der Hand: Gündoğan hat gerade die erfolgreichste Saison seiner Karriere beendet. Mit Manchester City schnappte er dem FC Arsenal den schon sicher geglaubten Premier-League-Titel vor der Nase weg. Im FA Cup sorgte er zudem im Finale gegen Manchester United mit einem Doppelpack im Alleingang für den Triumph. Den ersten Treffer erzielte er dabei per Volley nach gerade einmal 13 Sekunden.
Der größte Coup gelang aber Anfang Juni. Im Endspiel der Champions League traf Manchester City in Istanbul auf Inter Mailand. Durch einen 1:0-Sieg sicherte sich das Team aus dem Norden Englands nicht nur den langersehnten Henkelpott, sondern gleichzeitig das historische Triple. Und das mit einem Anführer aus Deutschland im zentralen Mittelfeld.
Im Starensemble von Pep Guardiola war İlkay Gündoğan nämlich in der vergangenen Spielzeit alles andere als ein x-beliebiger Spieler. Er war Citys Kapitän. Und als solcher führte er seine Mannschaft in einer derartigen Unaufgeregtheit von Erfolg zu Erfolg, dass der ein oder andere Führungsspieler der deutschen Nationalmannschaft sich eine Scheibe bei ihm abschneiden könnte.
Gündoğans Rückkehr als Kimmichs Entlastung
Das trifft vor allem auf einen DFB-Profi zu, der von der Ankunft Gündoğans im Kreise der Nationalmannschaft jetzt besonders profitieren dürfte: Joshua Kimmich. Wie im Fall von Flick lässt auch die Kritik an dem Bayern-Star seit Wochen nicht nach. Der Mittelfeldspieler, der mit seinem Verein eine durchwachsene Saison hinter sich hat, kämpft als auserkorener Leader der DFB-Elf mit seiner eigenen Form. Und vor allem damit, die zusammengewürfelte Mannschaft tatsächlich auch zu führen.
Die Last, die aktuell auf Kimmich liegt, könnte İlkay Gündoğan nun lindern. Mit dem früheren BVB-Star kehrt mehr Struktur und Organisation ins Spiel der Nationalelf zurück. Auch die Kommunikation auf dem Platz dürfte Gündoğan maßgeblich beeinflussen, indem er eine Ruhe ausstrahlt, die keinem anderen Führungsspieler im Team so innezuwohnen scheint wie ihm.
Joshua Kimmich könnte sich derweil wieder verstärkt auf seine sportlichen Fähigkeiten fokussieren. Denn auch die haben in den vergangenen Spielen zu wünschen übrig gelassen. Gegen Polen leistete er sich beispielsweise einen kapitalen Fehlpass, der den sonst starken Debütanten Malick Thiaw zu einem taktischen Foul zwang und dem Verteidiger die Gelbe Karte einbrachte.
Der Kern eines Mannschaftsgerüsts
Profitieren dürfte von der Gündoğan-Rückkehr aber nicht nur die Mannschaft auf dem Platz, sondern auch der Bundestrainer in seiner Planung für die Europameisterschaft 2024. Den Rückhalt im eigenen Land scheint Hansi Flick momentan immer weiter zu verlieren. Das liegt nicht zuletzt an seiner Experimentierfreudigkeit bei den Aufstellungen seiner Truppe, die bisher aber noch nicht zum Erfolg geführt hat.
Der Vorteil, den ein Startelf-Einsatz von Gündoğan schon gegen Kolumbien mit sich bringt: Flick könnte endlich mit dem Aufbau eines Mannschaftsgerüstes beginnen. Für den Kern einer EM-Mannschaft gab es auch schon in den vergangenen Wochen und Monaten einige Kandidaten. In der Defensive war das zum Beispiel Antonio Rüdiger, im Angriff wiederum Jamal Musiala und Florian Wirtz.
Was jedoch fehlte, war der Schlüsselspieler im Zentrum. Weil Kimmich eben überfordert war, und weil auch weitere Kandidaten wie Leon Goretzka oder Emre Can sowohl im Verein als auch im DFB-Team nicht immer zu überzeugen wussten.
Hoffnungsträger schon gegen Kolumbien
So kehrt mit Gündoğan nun genau das Puzzlestück in die Mannschaft zurück, das den entscheidenden Anstoß für eine bessere Zukunft der deutschen Nationalmannschaft geben kann. "Die Qualität ist da, aber die Realität ist, dass wir uns alles wieder hart erarbeiten müssen, dass Deutschland derzeit nicht da steht, wo es vor ein paar Jahren stand", erklärte der City-Profi auf der Pressekonferenz am Montag vor dem Kolumbien-Spiel. Aber: "Da wollen wir wieder hinkommen, das ist unsere Verantwortung."
Den ersten Schritt in die richtige Richtung kann das DFB-Team schon am Dienstagabend in Gelsenkirchen gehen. Sollte die Mannschaft mit Gündoğan ihre Partie gegen Kolumbien gewinnen, und das am Ende vielleicht sogar noch auf überzeugende Art und Weise, würde eine ganze Nation deutlich beruhigter in die Sommerpause gehen.
Eine erfolgreiche Heim-EM im kommenden Jahr schiene dann plötzlich wieder im Bereich des Möglichen. Hansi Flick könnte derweil dieses jetzt schon als Mammutaufgabe zu bezeichnende Projekt mit weniger Druck von außen angehen. Die Hoffnungen, dass für den Bundestrainer, seine Mannschaft und die Fußballfans alles besser wird, ruhen deshalb schon jetzt auf einem Spieler. Die Hoffnungen ruhen auf İlkay Gündoğan.
- Eigene Recherche