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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Besorgniserregender DFB-Auftritt Dieses Spiel hat eines ganz genau gezeigt
In einem Jahr und einem Tag beginnt die EM in Deutschland. Das Spiel gegen die Ukraine hat offenbart: Das DFB-Team ist alles andere als konkurrenzfähig.
Aus Bremen berichtet Noah Platschko
"Mit oder ohne Flick?" – Werder-Fan Lars konnte sich nach dem 3:3 der deutschen Mannschaft gegen die Ukraine einen Seitenhieb gegen den Bundestrainer nicht verkneifen. Wie groß denn die Chancen des DFB-Teams seien, im Sommer 2024 bei der Heim-EM um den Titel mitspielen zu können, lautete die vorangegangene Frage.
Eine richtige Antwort fand er nicht. "Irgendwo ist der Wurm drin. Die Unterstützung der Fans war doch eigentlich gigantisch. Frühe Führung, La-Ola-Welle, da hat vieles gepasst", so Lars nach Abpfiff weiter. "Aber letztendlich sind die Fans auch da, um guten Fußball zu sehen, und das hat hinten raus nicht geklappt. Deutschland hat es der Ukraine sehr leicht gemacht."
Es waren treffende Worte, die der Werder-Fan gut eine Stunde nach Abpfiff vor den Toren des Bremer Stadions fand, um den Auftritt der deutschen Mannschaft gegen die Ukraine zu beschreiben. In der Tat machte der Auftakt in dieses so besondere tausendste Länderspiel gegen den vom Krieg gebeutelten Gegner durchaus Hoffnung, das deutsche Team könnte aus den Fehlern der Vergangenheit gelernt haben.
Erinnerungen an Japan in Katar
Doch die 45 Minuten nach der positiven Anfangsviertelstunde offenbarten, dass die von Flick eingesetzte Dreierkette keineswegs wettbewerbsfähig ist. Abstimmungsprobleme zwischen Antonio Rüdiger, Matthias Ginter und Nico Schlotterbeck wurden von individuellen Aussetzern eben jener Verteidiger noch übertroffen. Insbesondere der Dortmunder Schlotterbeck erlebte einen rabenschwarzen Tag und erinnerte mit seiner Performance an seinen schwachen Auftritt beim 1:2 bei der WM in Katar gegen Japan.
Trotzdem will Flick weiter an dem Experiment festhalten und auch am Freitag gegen Polen wieder mit der Dreierkette auflaufen – vermutlich dann in etwas anderer Besetzung. "Wir haben einen Plan, der das Ganze betrifft. Den werden wir weiter durchziehen", kündigte der Bundestrainer an.
Doch keiner in der deutschen Mannschaft zeigte Normalform in diesem sommerlichen Testländerspiel, das extra familienfreundlich bereits um 18 Uhr losging, während bei 27 Grad im benachbarten Stadionbad fröhlich geplanscht wurde. Die Zuschauerinnen und Zuschauer sahen mit Leon Goretzka einen einsamen Sechser, an dem das Spiel weitestgehend vorbeilief. Sie sahen die wirkungslosen Außenverteidiger Marius Wolf und David Raum sowie eine engagierte, aber ohne die fehlende Durchschlagskraft agierende Offensive um Lokalmatador Niclas Füllkrug. Der Bremer Stürmer erhielt bei seinem "Heimspiel" bereits vor Anpfiff doppelt so viel Support und Zuspruch wie seine Mannschaftskollegen – und belohnte sich etwas glücklich mit dem Führungstreffer zum 1:0 (6. Minute).
Anhand der Personalie Füllkrug ließ sich aber auch gut die Stimmungslage des Publikums messen. Als der Bundesliga-Torschützenkönig zur Pause ausgewechselt wurde, quittierte das Publikum diese Maßnahme mit einem entschiedenen gellenden Pfeifkonzert. Es sollte nicht das Einzige an diesem Nachmittag bleiben.
Denn nach einer guten Stunde, die Ukraine hatte kurz zuvor nach einem Aussetzer von "Abwehrchef" Ginter auf 3:1 erhöht, ließen sie die deutsche Mannschaft erneut ihren Unmut spüren. Mehr noch: "Werder Bremen" hallte es hämisch von der Ostkurve, wenig später skandierten dieselben Fans "Hier regiert der SVW" – Lars, der Fan, war einer von ihnen. Erst als Kai Havertz in der 83. Minute die Aufholjagd startete, kam das Publikum noch mal – und wurde schließlich mit dem Ausgleich in der Nachspielzeit belohnt.
Doch auch der späte Treffer des Chelsea-Stürmers konnte nicht darüber hinwegtäuschen, dass der deutschen Mannschaft aktuell nicht nur der unabdingbare Support der Anhänger, sondern auch die notwendige Stabilität und Balance zwischen Offensive und Defensive abgeht.
Flick und der Vergleich mit 2006
Ein Jahr vor der EM im eigenen Land befindet sich das DFB-Team sowohl im Leistungs- als auch im Stimmungstief. Von t-online auf die Pfiffe angesprochen wählte Flick einen Vergleich mit der Heim-WM 2006 vor 17 Jahren. "2006 hat man im März 1:4 in Italien verloren und es war eine wahnsinnig negative Stimmung. Trotzdem ist es ein Sommermärchen geworden", so der Bundestrainer. "Wir sind zeitlich noch etwas weiter davon entfernt, und wir wissen, dass eine Menge Arbeit vor uns liegt. Da bin ich auch überzeugt von der Mannschaft. Am besten aber müssen wir Spiele gewinnen." Doch so wie am Montag wird es schwierig, eben genau das zu erreichen.
Immerhin versuchte Flick erst gar nicht, die Leistung seines Teams schönzureden. "Das Spiel zeigt die Verfassung der Mannschaft", räumte er im ZDF ein. "Man merkt, dass die Mannschaft aktuell nicht mit der breiten Brust unterwegs ist. Daran müssen wir arbeiten. Wir wissen, dass es ein langer Prozess ist", so Flick. Seine Aussagen ähnelten denen aus dem vergangenen Sommer, als man insgesamt viermal hintereinander nur 1:1 und ein gutes halbes Jahr später eine verkorkste WM spielte. In Katar war es zu wenig, aktuell ist es das auch. Viel zu wenig.
Und aktuell mach wenig Hoffnung, dass dem Bundestrainer binnen zwölf Monaten der notwendige Turnaround gelingt. Der Druck nimmt auch für ihn zu, denn die Ergebnisse stimmen nicht. Flick muss langsam liefern. Die einzigen drei Siege seit September 2022 gelangen dem DFB-Team gegen den Oman, Costa Rica und Peru. Bei der EM warten deutlich stärkere Gegner. Wenn die deutsche Mannschaft an diesem Montag eines offenbarte, dann, dass sie vom Titelgewinn bei der EM mindestens so weit entfernt ist wie Werder Bremen von der Deutschen Meisterschaft.
Den Werder-Fans im Stadion dürfte dies ziemlich egal sein. Noch über eine Stunde nach Abpfiff brüllten angetrunkene Anhänger der Grün-Weißen den Namen ihres Helden Niclas Füllkrug. Der könnte schon am Freitag Geschichte schreiben. Sollte "Lücke" auch gegen Polen (20.45 Uhr, im Liveticker bei t-online) treffen, hätte er in sechs aufeinanderfolgenden Länderspielen ein Tor erzielt. Er wäre der erste deutsche Spieler in der Geschichte, dem das gelänge.
- Eigene Beobachtungen vor Ort
- Aussagen von Hansi Flick auf der Pressekonferenz nach Spielende
- Persönliche Gespräche vor Ort