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Zum journalistischen Leitbild von t-online."Pure Geldmacherei" und "skandalös" Kritik an Uefa wächst – und trotzdem sind 60.000 Zuschauer im Stadion
Am Dienstag und Mittwoch finden die Halbfinals der EM statt – vor 60.000 Zuschauern. Am Sonntag dann das Finale. Nicht allen gefällt, wie die Uefa die Zuschauerfrage beantwortet hat.
Die Eröffnungsfeier der Olympischen Spiele in Tokio am 23. Juli? Findet wahrscheinlich ohne Zuschauer statt. Auch einige Wettbewerbe könnten ohne Publikum auskommen. Grund ist, dass der Corona-Notstand im Großraum Tokio um einen Monat verlängert werden soll.
Das Formel-1-Rennen in Australien? Fällt das zweite Jahr in Folge wegen der Corona-Pandemie aus. Die Organisatoren sagten das für November geplante WM-Rennen in Melbourne ab. Grund seien die strikten Beschränkungen und Auflagen bei der Einreise zur Eindämmung des Coronavirus, die wohl mindestens bis zum Ende des Jahres bestehen blieben.
Zwei Beispiele aus der Welt des Sports, die aus gesundheitlichen Sicherheitsgründen davor zurückschrecken, entweder mit Zuschauern zu planen oder die Veranstaltung überhaupt stattfinden zu lassen. Mit Staunen wirft man dann einen Blick nach England. Zu den Halbfinals und dem Finale der Fußball-EM, die in London stattfinden.
In Großbritannien steigen die Infektionszahlen seit Wochen wieder stark an. Die Sieben-Tage-Inzidenz liegt bei 264,1. Seit Anfang Juli werden pro Tag mehr als 20.000 Neuinfektionen registriert. Und hier werden sich nun 60.000 Zuschauer im Wembley-Stadion tummeln, zusammen feiern, sich jubelnd in den Armen liegen. Als vor einer Woche 45.000 Zuschauer zum Achtelfinalspiel zwischen England und Deutschland ins Stadion durften, gab es danach einige kritische Äußerungen über transportierte Jubelbilder, auf denen Fans keine Rücksicht auf bestehende Corona-Maßnahmen nahmen.
Und die Uefa? Die schweigt, hatte vor ein paar Wochen London massiv unter Druck gesetzt wegen der Zuschauerzahlen, sogar mit einem Verlust der Finalspiele und einer Verlegung hin nach Budapest gedroht. Inzwischen will sich der Verband nicht mehr wirklich äußern, ließ auch eine t-online-Anfrage unbeantwortet – und begnügt sich längst damit, an die von den Regierungen und Gesundheitsbehörden der jeweiligen Länder erlassenen Bestimmungen im Umgang mit der Pandemie zu verweisen.
Altkanzler Gerhard Schröder (77) fand in einem t-online-Interview klare Worte: "Was die Uefa gerade mit der Öffnung der Stadien für bis zu 60.000 Menschen betreibt, das ist unverantwortlich. Das hat nichts mehr zu tun mit der Freude am Fußball oder der vorgeblichen Stärkung des europäischen Gedankens. Das ist pure Geldmacherei."
Schröder stellte die Frage, wo "eigentlich die deutschen Vertreter im Exekutivkomitee der Uefa – wie etwa der DFB-Vize Rainer Koch – in dieser Diskussion" seien. "Von denen hört man nichts", sagte Schröder.
Die Geldmaschine muss laufen
Auch Cem Özdemir machte seinem Ärger angesichts der zugelassenen Besucherzahl bei den abschließenden drei EM-Partien im Londoner Fußballtempel Luft. "So viele Fans ins Stadion zu lassen und aus den Spielen Superspreader-Events zu machen, während sich die gefährliche Delta-Variante in Europa ausbreitet – das halte ich für unverantwortlich", äußerte der Grünen-Politiker.
Laut Özdemir geschieht all das aber ohnehin nur, "damit die Geldmaschine" läuft. "So macht man den Fußball kaputt", wetterte der 55-Jährige in den Stuttgarter Zeitungen: "Es ist skandalös, wie die Uefa mit der Gesundheit von Zuschauern und Spielern umgeht."
Auch für Bundesinnenminister Horst Seehofer ist "die Position der Uefa absolut verantwortungslos". Der Kommerz dürfe "nicht den Infektionsschutz für die Bevölkerung überstrahlen".
Wie Seehofer wohl findet, dass das EM-Finale zur Impf-Lotterie verkommt? Londons Bürgermeister Sadiq Khan verlost unter allen Einwohnern der Hauptstadt, die bis Donnerstag ihren ersten Impftermin wahrgenommen oder gebucht haben, zwei Eintrittskarten für das Endspiel am Sonntag im Wembley-Stadion.
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Die Befürchtung und Sorge einiger Politiker, dass die kommenden Finalspiele somit zum Superspreader geraten, ist wohl nicht unbegründet. Der Gesundheitsexperte und SPD-Politiker Karl Lauterbach hatte schon angesichts der 45.000 Fans beim Spiel zwischen England und Deutschland im Wembley-Stadion kritisiert, "wie eng die Fans stehen, wie oft sie sich umarmen und anschreien", und prophezeite: "Es haben sich sicherlich Hunderte infiziert und diese infizieren jetzt wiederum Tausende. Die Uefa ist für den Tod von vielen Menschen verantwortlich."
Sorge bereitet auch die Frage, wie viele Fans der Halbfinalisten aus Spanien, Italien und Dänemark das Einreiseverbot umgehen wollen – wie zuletzt zahlreiche englische Anhänger beim Viertelfinale in Rom. Zudem werden aus Dänemark Forderungen laut, wonach geimpfte Anhänger nach England gelassen werden sollten.
Dass die viele Fan-Reiserei die Corona-Fallzahlen in Europa steigen ließ, ist nicht von der Hand zu weisen. Wie Beispiele infizierter Zuschauer zum Beispiel aus Kopenhagen und St. Petersburg zeigten.
Horst Seehofer sieht es als vorgezeichnet, dass ein Fußballspiel mit 60.000 Zuschauern das Infektionsgeschehen befördere, vor allem in einem Land, das bereits stark von der hochansteckenden Delta-Variante betroffen sei. Dabei verwies er auch auf einen Vorfall mit infizierten Fans aus Schottland, die zum Spiel gegen England in London waren.
Die schottischen Behörden hatten mitgeteilt, dass von den Tausenden Fans, die zu dem Spiel gegen England am 18. Juni nach London gereist waren, fast 2.000 mit dem Coronavirus infiziert waren. Knapp 400 von ihnen seien unter den rund 20.000 Zuschauern im Wembley-Stadion gewesen, andere hätten das Spiel im Stadtzentrum verfolgt.
Am Dienstag spielen also Italien und Spanien (21 Uhr im t-online-Liveticker) das erste Halbfinale aus. Am Mittwoch spielt England dann vor heimischen Zuschauern gegen Dänemark (21 Uhr im t-online-Liveticker). Nach rund ein bis zwei Wochen wird man sehen, welche Auswirkungen die 75-Prozent-Auslastung des Wembley-Stadions am Ende hatte – und ob die Spiele zu einem Superspreader-Event geworden sind.
- Mit den Nachrichtenagenturen SID und dpa