Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Rot-weiße Euphorie Für Dänemark ist ein Märchen wie '92 drin
Das Eriksen-Drama hat die Dänen zusammengeschweißt. Mit einem "Für Christian"-Spirit schafften sie es noch ins Achtelfinale. Sie schwimmen auf einer Euphoriewelle. Vieles erinnert an 1992, meint EM-Kolumnist Lutz Pfannenstiel.
Rot und Weiß sind die Farben, die heute Abend in der Arena von Amsterdam den Ton angeben werden, wenn Dänemark im EM-Achtelfinale auf Wales trifft (ab 18 Uhr im Liveticker von t-online). Der rote Drache auf der Nationalflagge von Wales wird wohl untergehen in einem dänischen Flaggenmeer, denn die Sympathien dürften klar verteilt sein.
Dies liegt nicht nur daran, dass walisische Fans aufgrund der sich in Großbritannien ausbreitenden Delta-Variante des Coronavirus nicht einreisen dürfen. Und auch nicht an den rund 4.000 dänischen Anhängern, die erwartet werden, sondern an Christian Eriksen – auch wenn er in Amsterdam gar nicht auf dem Platz stehen wird. Seinetwegen werden Millionen Fans weltweit Dänemark beide Daumen drücken.
Sein Zusammenbruch in Dänemarks erstem EM-Spiel gegen Finnland und die extrem emotionalen Szenen danach haben nicht nur Fußballfans bewegt. Da ich 2003 selber auf dem Platz zusammengebrochen bin und klinisch tot war, ging mir das besonders nahe. Umso erfreulicher ist es, dass sich Eriksen auf dem Weg der Besserung befindet. Seit dem Vorfall fliegen dem dänischen Team weltweit die Sympathien zu. Was in Amsterdam dazukommt: Eriksen spielte dort drei Jahre lang selbst – bei Ajax Amsterdam.
Nicht nur deshalb sind die Dänen für mich klar favorisiert. Durch ein 4:1 im letzten Gruppenspiel gegen Russland schafften sie sensationell noch den Einzug in die K.o.-Runde – und schweben seitdem auf einer Euphoriewelle. "Wir bekommen eine unglaubliche Unterstützung. Im eigenen Land und selbst in ganz Europa", fasst es Dortmunds Thomas Delaney zusammen.
- Eriksen-Drama: Elektroschock rettete ihm das Leben
Er und seine Kollegen spielen unter dem Motto "Für Christian", was zuletzt Extrakräfte freigesetzt hat. Ich selbst kann das gut verstehen. Nach meinem Zusammenbruch zeigten meine Mitspieler im nächsten Spiel die sprichwörtlichen 110 Prozent Einsatz und wollten mir unbedingt einen Sieg schenken. Im Falle der Dänen birgt das natürlich die Gefahr, dass sie überpacen und ihnen irgendwann die Kräfte ausgehen.
Die Geschichte um Eriksen hat den Fußball insgesamt wieder ein bisschen mehr zusammengeschweißt – und gezeigt, dass es nicht nur um das große Geld geht, sondern vor allem um Emotionen. Deshalb finde ich es auch absolut menschlich, dass ARD-Kommentator Tom Bartels im entscheidenden Spiel über die Dänen etwas positiver berichtete als über den Gegner aus Russland.
Dass das den russischen Fans im ersten Moment etwas negativ aufstößt, ist natürlich vollkommen verständlich. Aber seien wir doch mal ehrlich: In diesem Spiel haben doch 90 Prozent der neutralen Fans aufgrund der Eriksen-Situation zu den Dänen gehalten und sich für sie gefreut – ähnlich wie 1992, als das dänische Team quasi aus dem Urlaub als Nachrücker sensationell den Titel gewann. Da haben sogar viele Deutsche im Finale insgeheim den Dänen die Daumen gedrückt.
Delaney und "das gleiche Gefühl" wie 1992
Kein Wunder, dass Delaney bei den Menschen in Dänemark "das gleiche Gefühl wie damals" ausmacht. Und ein Märchen wie 1992 ist für Dänemark durchaus drin. Dazu müsste natürlich viel zusammenkommen. Doch das war vor 29 Jahren auch der Fall. Danish Dynamite 2.0 – das hätte doch was.
Dänemark hat den besseren Kader, aber man darf die Waliser auf keinen Fall unterschätzen. Denn Wales ist weit mehr als Superstar Gareth Bale, auch wenn er natürlich der Fixpunkt ist.
Die Waliser sind eine grundsolide Mannschaft, die den technisch starken Dänen mit ihrer schnellen, körperlichen Spielweise zusetzen wird – und dazu mit Aaron Ramsey von Juventus oder Joe Allen weitere starke Individualisten besitzt.
Am spannendsten finde ich aber einen anderen Spieler – Kieffer Moore. Mit knapp zwei Metern Körpergröße wirkt er im Sturm oft schlaksig und alles andere als elegant. Und unter uns: Besonders gut ist er technisch auch nicht. Dennoch werden die Dänen mit ihm ihre Probleme haben, denn Moore ist genau der Typ Stürmer, gegen den man als Abwehrspieler auf keinen Fall spielen will – kantig, körperlich, extrem kopfballstark und immer mit vollem Einsatz unterwegs. Eine knallharte Neun, ein Charakter wie Sandro Wagner damals.
Zusätzlich befindet sich Moore mit 28 Jahren in der Form seines Lebens und hat bereits ein EM-Tor erzielt. Das ist umso erstaunlicher, weil er vor nicht allzu langer Zeit noch in der fünften, sechsten Liga rumkickte. Dann war er mal vertragslos – und tingelte anschließend durch die zweite und dritte englische Liga. Der Knoten platzte so richtig erst in dieser Saison, als er bei Zweitligist Cardiff 20 Tore erzielte. Für Wales ist Moore daher aktuell wie ein Sechser im Lotto. Doch unter dem Strich bleibt Dänemark Favorit.