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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Fehler als "Schande" Der Irrtum im Fußball
Fehler sind etwas Schlechtes und sie zu machen eine Schande. Zumindest ist das der Eindruck, den man nicht nur in der Gesellschaft, sondern auch im Fußball bekommt. Ein Trugschluss.
Michael Freses Alltag besteht aus Fehlern. Nicht, weil er überdurchschnittlich viele macht, sondern weil er sich mit ihnen befasst. Frese ist Fehlerforscher und einer der führenden Wissenschaftler in diesem Bereich. Viele Unternehmen greifen auf seine Erkenntnisse zurück und wollen mit seiner Hilfe ihre Fehlerkultur nachhaltig verändern. Denn in einigen Branchen und Ländern gibt es noch Luft nach oben. Auch im Fußball und auch in Deutschland.
Früh im Gespräch mit t-online stellt der 71-Jährige klar, dass Fehler einen "positiven Wert haben". Was er damit meint: "Sie bringen uns auf neue Gedanken. Entscheidend ist, dass wir diese Fehler zugeben und daraus lernen wollen. Wenn ich beispielsweise beim Schwimmen etwas falsch mache und mich jemand korrigiert, ist das gut. Ich kann natürlich auch stur behaupten, ich würde alles richtig machen und den Hinweis ignorieren. Aber was bringt mir das?"
Christoph Spycher, Sportdirektor der Young Boys aus Bern, stimmt Frese zu. Auch in seiner täglichen Arbeit geht es um Fehler. Während er früher von Fehlerfreiheit getrieben war, sagt er inzwischen: "Mein größter Kampf ist der gegen die Perfektion. Man will natürlich alles so gut wie möglich machen, aber Perfektion werde ich nie erreichen. Das ist unmöglich. Aus unseren Fehlern können wir lernen." Ein Punkt, bei dem Michael Frese Experte ist. Denn er weiß, wie man aus Fehlern lernt.
Frese macht selbst gerne Sport, verfolgt aber beispielsweise die Fußball-Bundesliga nur selten. Die Denkmuster im Profisport sind ihm trotzdem bekannt. "Das Problem, das es in vielen Betrieben und auch Sportvereinen gibt, ist, dass Fehler verdammt werden. Sie sollen unbedingt vermieden werden und darunter leidet die Transparenz, weil wir tagtäglich Fehler machen. Also werden sie lieber verschwiegen. Auf dieser Basis werden dann die falschen Entscheidungen getroffen und können viel Geld kosten."
Michael Frese (71) ist studierter Psychologe und Professor im Bereich Managements- und Organisationspsychologie. Er lehrt unter anderem an der Universität Lüneburg und der Asia School of Management in Kuala Lumpur (Malaysia). 2013 wurde er zum Mitglied der Leopoldina gewählt.
Die Rede ist nicht nur von einem verschossenen Elfmeter oder einem Fehlpass, sondern in erster Linie von größeren Aspekten der Arbeit in einem Verein.
Ein Beispiel für diesen Fall:
Der Manager eines Vereins verpasst es, in der Transferperiode einen bestimmten Spielertypen für den Kader zu kaufen. Er entscheidet sich für einen anderen Spielertypen, der nicht so gut ins System des Trainers passt. Die Ambitionen des Vereins bleiben davon aber unbeeinflusst. Er macht in dem Sinne einen Fehler. Öffentlich und auch intern gesteht er sich das nicht ein, beschreibt die Mannschaft als ideal in der Zusammenstellung. Auch an den Saisonzielen will er keine Änderungen vornehmen.
Der Trainer schafft es aber nicht, mit den verfügbaren Spielern die nötigen Ergebnisse einzufahren. Er gerät in die Kritik und wird als Hauptschuldiger gesehen und beurlaubt. Doch auch sein Nachfolger hat Probleme, die Trendwende mit dem Kader zu schaffen und wird ebenfalls von seinen Aufgaben entbunden. Der Klub muss also mehrere Trainer bezahlen und erreicht die Ziele trotzdem nicht.
Bei Schalke 04 haben es in der aktuellen Saison vier verschiedene Trainer, plus Interimscoach Huub Stevens, nicht geschafft, den Verein aus der Abstiegszone zu befreien. Keinem von ihnen gelang es, mit den vorhandenen Spielern die Defensive zu stabilisieren und gleichzeitig einen klaren Plan zu entwickeln, zielstrebig und erfolgreich nach vorne zu spielen.
Und so traf auf Schalke das ein, was Frese in seinen Aussagen beschreibt. Ein offener Umgang mit dem Fehler in der Kaderplanung und die daraus resultierende Anpassung der Erwartungen hätten die Drucksituation für den jeweiligen Trainer verringert und dem Klub hohe Kosten erspart. So stieg auch die Last der Mannschaft, was das befreite Aufspielen schier unmöglich machte und zum Abstieg führte.
Wie man Fehler richtig einplant
Solche Situationen gibt es immer wieder. Die Fehlertoleranz im Fußball ist gering, gerade in Deutschland. Bei einigen Klubs wackelt nach vier Niederlagen am Stück bereits der Trainerstuhl. Bei anderen führen fehlerhafte Leistungen im Spielertraining zu einem Platz auf der Bank oder der Tribüne. Fast jede Person im Fußballgeschäft kennt die Drucksituation, keinen Fehler machen zu dürfen.
Durch die hohen Geldsummen, die heutzutage im Umlauf sind, gibt es kaum Möglichkeiten, Fehler zu machen und daraus zu lernen. Dabei wäre genau das die richtige Herangehensweise, sagt Frese.
"Ein Fehler kann auch zu einer Niederlage führen, gerade im Sport. Daher ist es wichtig, dass man Fehler früh oder schnell macht. Wenn es einen sicheren Raum gibt, im Training zum Beispiel, dann ist das ideal. Wir haben in der Forschung für eine Computersoftware den Leuten gesagt, sie sollen zu Beginn so viele Fehler wie möglich machen. Das Ergebnis war ein weitaus besseres Lernverhalten. Ich habe mir auch sagen lassen, dass man im Jiu-Jitsu das richtige Fallen lernt, bevor es wirklich losgeht. Dabei ist das eigentliche Ziel ja, nicht am Boden zu liegen. Doch es ist gut, Fehler zu machen, um auf die Resultate vorbereitet zu sein. Sie müssen in das Training integriert werden."
Ist das deutsche Streben nach Fehlerfreiheit also schlecht? Frese widerspricht. "Perfektion ist nichts Schlimmes. Und der Versuch, Fehler zu vermeiden, ist ja per se auch nicht schlecht. Es geht nur darum, Fehler nicht zu verdammen, sondern richtig mit ihnen umzugehen."
Ein Blick in die Praxis
Über den richtigen Umgang mit Fehlern hat sich auch Holger Sanwald Gedanken gemacht. Der Geschäftsführer des 1. FC Heidenheim setzt auf eine offene Kultur, erklärt er im Gespräch mit t-online. "Ich erwarte von unseren Mitarbeitern, mich auf meine Fehler hinzuweisen. Klar, ich bin inzwischen etwas älter, da haben gerade die jüngeren Leute vielleicht noch manchmal etwas zu viel Respekt vor mir. Aber wir wollen uns ja weiterentwickeln. Wenn wir die Dinge, die wir besser machen könnten, nicht gemeinsam offen ansprechen, dann drehen wir uns im Kreis und bleiben als Verein in unserer Entwicklung stehen."
Er sieht auch im Verschleiern von Fehlern ein "typisch deutsches" Verhalten. "Viele denken sehr politisch und denken, sie würden dann angezweifelt oder an die Wand genagelt werden, wenn sie ihre Kritik äußern. Insbesondere im Profifußball werden wir in der Öffentlichkeit an Ergebnissen gemessen. Kein Mensch erfüllt seine Aufgaben ohne Fehler. Also warum sollten wir so tun, als seien sie unnatürlich oder eine Schande?"
Der Unterschied zu den USA
Ein Blick ins Ausland zum Vergleich der Fehlerkulturen kann sich lohnen. Michael Frese hat ein Beispiel aus den USA parat. "Ich habe mal einen Bericht in der 'Businessweek' gelesen, wo die Chefs großer US-amerikanischer Firmen gefragt wurden, was sie in ihrer Karriere für Fehler gemacht haben. Das Gleiche hat ein deutsches Magazin dann auch in Deutschland umgesetzt. In den USA haben die CEOs mehrere Fehler aufgelistet, die sie in ihrem Werdegang gemacht haben. Die deutschen Chefs haben geantwortet mit: 'Ich habe den Fehler gemacht, anderen Leuten zu sehr zu vertrauen.' Also mit anderen Worten: Sie haben die Schuld auf andere geschoben. Das ist typisch für den Umgang mit Fehlern in Deutschland im Vergleich zu den USA." Frese scherzt: "Im Silicon Valley muss man ja fast schon einmal pleite gegangen sein, bevor man ernst genommen wird."
Die Fehlerkultur zu ändern, ist nicht schwer, erklärt der Wissenschaftler: "Im Fehlermanagementtraining sagen wir immer als Erstes: Durch einen Fehler wisst ihr, dass ihr jetzt etwas lernen könnt. Macht so viele Fehler wie ihr wollt, probiert euch aus, ihr könnt hier nichts verkehrt machen. Das ist eine Trainingssituation, ein geschützter Raum. Mit der Zeit merken das die Leute auch. Die Ergebnisse davon sind, dass sie das gelernte Material viel besser anwenden können als die, die Fehler vermeiden sollten."
Wer also im Fußball eine andere Fehlerkultur ins Leben rufen will, sollte seine Saisonvorbereitung überarbeiten. Denn nicht nur Fitness und Taktik können hier optimiert werden. Die langfristigen Effekte könnten sich lohnen.
- Interview mit Prof. Michael Frese
- Interview mit Holger Sanwald
- Gespräch mit Christoph Spycher
- Eigene Beobachtungen