Das 7:1 feiert Jahrestag Kommen wir hier noch heil raus? Erinnerungen an das Jahrhundertspiel gegen Brasilien
Von Thomas Tamberg
Wissen Sie, was Sie am 8. Juli 2014 gemacht haben? Ganz bestimmt. Exakt vor einem Jahr standen sich Brasilien und Deutschland im Halbfinale der WM 2014 gegenüber. Der Rest ist große Geschichte. Allein der Gedanke an dieses Spiel löst immer noch eine Gänsehaut aus. Für t-online.de war ich vor Ort und durfte das Spiel meines Lebens sehen. Ein paar Meter entfernt von mir saß Christian Eichler auf der Pressetribüne. Der Journalisten-Kollege berichtete für die "Frankfurter Allgemeine Zeitung" aus Belo Horizonte.
Auch Eichler ließ dieses Ereignis nicht mehr los und er schrieb nach der WM ein ganzes Buch über dieses außergewöhnliche Spiel. "7:1 - Das Jahrhundertspiel: Als der brasilianische Mythos zerbrach und Deutschlands vierter Stern aufging". So lautet der Titel. 14 Wochen stand er auf der Spiegel-Bestsellerliste (Paperback). Zum Jahrestag habe ich mich mit ihm noch einmal an diesen sagenhaften Abend erinnert und über sein Buchprojekt gesprochen.
Wie kommt man auf die Idee, ein einziges Spiel in ein Buch zu fassen?
Christian Eichler: Eben weil es so einmalig war. Man muss ja nur zwei Zahlen sagen: Sieben und Eins. Dann weiß jeder, was gemeint ist. Das ist bei einem Fußballergebnis schon mal nicht so einfach. Es gibt eigentlich zu jedem Resultat hunderte Spiele, die einem einfallen. Aber beim 7:1 weiß jeder, um was es ging und wo er war. Und dann ist da noch diese große Rätselhaftigkeit des ganzen Spiels, die man sich erst selbst erklären musste. Wenn es also überhaupt ein Spiel verdient hat, in all seinen Facetten in einem Buch aufgedröselt zu werden, dann dieses Halbfinale. Außerdem stehen auch noch viele andere Geschichten drin. Von Brasilien, von der WM, die Entstehung der deutschen Weltmeister-Mannschaft. Eine lange Geschichte, die ich versucht habe aufzuschreiben. Das hat mich total gereizt.
Kaum jemand dürfte sich so intensiv mit diesem Spiel beschäftigt haben wie du. Welches Bild kommt dir als erstes in den Sinn, wenn du an dieses 7:1 zurückdenkst?
Das war der Moment nach dem 4:0 von Toni Kroos, als ich das Gefühl hatte, das ist jetzt nicht mehr wahr, was ich hier sehe. Das ist eine Halluzination. Ich schaute meinen Kollegen Christian Kamp an, der neben mir saß und er schaute genauso fassungslos zurück. Dann blickte ich mich im Stadion um und sah ebenfalls lauter fassungslose Menschen. Dieses Bild wird mir für den Rest meines Lebens in Erinnerung bleiben.
Welchen Auftrag hatte dir deine Redaktion für diesen Abend in Belo Horizonte mit auf den Weg gegeben?
Mein Part war es, das Spiel aus brasilianischer Sicht zu beschreiben, während mein Kollege es aus deutscher Sicht bewertete. Das hatte für mich den Vorteil, dass ich schon in der Pause anfangen konnte, meinen Artikel zu schreiben. Es war ja klar, dass es ein Debakel für Brasilien werden würde.
Es war die merkwürdigste Halbzeitpause, die ich bisher erlebt habe. Man konnte sich gar nicht richtig mit der deutschen Nationalmannschaft freuen, sondern hatte irgendwie ein mulmiges Gefühl im Magen.
Das stimmt. In der Pause waren viele verunsichert. Man war ängstlich, weil man nicht genau wusste, was in der zweiten Halbzeit passieren würde. Wie reagieren die Zuschauer? Wie reagiert das ganze Land? Man hatte ja noch die Massenproteste vom Confed Cup aus dem Vorjahr im Kopf. Es war zu befürchten, dass es wieder losgehen könnte. In dem Moment war Brasilien schließlich dabei in einer Art und Weise aus dem Turnier zu fliegen, wie es das in der WM-Geschichte noch nie gegeben hatte. Das machte vielen von uns in diesem Moment zu schaffen. Was passiert im Stadion, bricht alles zusammen? Kommen wir hier noch heil raus? Das waren Überlegungen, die zu diesem Zeitpunkt das Fußballspiel überlagert hatten.
Es kam ganz anders. Und ich muss sagen, dass ich noch nie so faire Verlierer gesehen habe wie die Brasilianer an diesem Abend und in den folgenden Tagen.
Absolut. Diese Befürchtung, dass Frust und Gewalt sich Bahn brechen, hat sich zu keinem Zeitpunkt bewahrheitet. Die Menschen waren eher beschämt als wütend. Sie schlichen nach Hause. Es war eine würdevolle Art, mit dieser Niederlage umzugehen. Auch die deutschen Spieler haben dazu beigetragen. Sie haben nicht versucht, den Gegner zu demütigen oder vorzuführen. Sie haben seriös weitergespielt. Das hat auch dazu beigetragen, dass die Deutschen von den Brasilianern nicht als Feindbild empfunden wurden.
Irgendwann während der 90 Minuten wurde mir bewusst, dass ich wohl gerade das Spiel meines Lebens sehe. Erging es dir ähnlich?
Ich hatte diesen Gedanken auch, aber erst nach dem Spiel. Ich war ziemlich überfordert von der Partie. Zumal ich auch mit Schlusspfiff einen Artikel fertig schreiben musste. In diesem Moment läuft man auf Notstrom und funktioniert einfach. Ohne zu begreifen, was passiert. Mir wurde erst nach der Partie klar, dass es ein einmaliges Spiel war.
Der Untertitel deines Buches lautet daher auch "das Jahrhundertspiel".
Manche Leute fragen sich, wie ich das jetzt schon behaupten könne, schließlich kommen da noch 85 Jahre. Aber zum einen bietet ein Jahrhundert natürlich Platz für mehrere Jahrhundertspiele. Zum anderen bin ich der festen Überzeugung, dass von allen Spielen, die ich je gesehen habe, dieses Spiel dasjenige ist, das sich in dieser Art nicht annähernd wiederholen wird.
Wie meinst du das?
In einem WM-Halbfinale werden wir nie wieder eine solche Demütigung für eine brasilianische Nationalmannschaft erleben. Und wir werden auch nie wieder eine solch perfekt spielende deutsche Mannschaft sehen, wie sie es vom 2:0 bis zum 5:0, von der 23. bis zur 29. Minute praktiziert hat. Das waren sechs Minuten und vierzig Sekunden Perfektion am Stück. Kein einziger Pass, keine einzige Bewegung, keine einzige Ballmitnahme und kein einziger Abschluss, der nicht perfekt war. Das ist einmalig.
Als ich vor dem Spiel diese gewaltige gelbe Menschenmasse gesehen habe und diese ekstatische Begeisterung, da dachte ich nur: Oh je, wenn die Brasilianer ins Rollen kommen, fegen sie über uns hinweg. Wie hast du die Situation vor dem Spiel wahrgenommen?
Ich hatte ein ähnliches Gefühl. Die Brasilianer waren zuvor im Achtelfinale gegen Chile sehr glücklich weitergekommen. Im Viertelfinale gegen Kolumbien, das zu den besten Teams bei diesem Turnier zählte, haben sie mit physischer Härte und totaler Energie gewonnen. Ich habe damals das Spiel in Fortaleza im Stadion gesehen und dachte, dass jetzt der Knoten bei ihnen geplatzt ist. In diesem Moment habe ich gespürt, welche Macht der Fußball in Brasilien hat und wie viel Energie daraus erwachsen kann. So viel, dass auch eine mittelmäßige brasilianische Mannschaft Berge versetzen kann. Daher hatte ich auch ein bisschen Bammel vor dem Halbfinale gegen Deutschland.
Durch dieses Buch bist du auch ein Brasilien-Experte geworden und bist auch für brasilianische Medien ein gefragter Gesprächspartner. Wie lange wird es dauern, bis sich die Selecao von dieser historischen Pleite erholt hat? Bei der Copa sind die Brasilianer ebenfalls im Halbfinale ausgeschieden.
Ich fürchte, dass wird noch eine Weile dauern. Und ich finde es ehrlich gesagt schlimm. Ich will wieder mein Brasilien zurück, wie es früher mal war. Als man das Gefühl hatte, da lohnt es sich, jedes Spiel zu gucken. Brasilien war immer auch ein ganz großer Show-Wert bei einer WM. Aber bei dieser WM waren die Brasilianer nicht gut. Und wenn man ehrlich ist, waren sie es schon 2006 nicht. Da war Ronaldinho schon faul und Ronaldo dick. Und 2010 haben sie Dunga-Fußball gespielt ohne Esprit, so wie jetzt auch.