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Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Zum Tod von Uwe Seeler Das letzte Idol für alle
Der ganz große sportliche Wurf blieb ihm versagt. Dennoch war Uwe Seeler der wohl beliebteste Fußballer Deutschlands – und ein Vorbild für Generationen.
Eigentlich gibt es sie nicht, diese Leute, die wirklich jeder mag. Zumal im Sport. Nur bei einem waren sich immer alle einig: bei Uwe Seeler. Der ehemalige Mittelstürmer wurde in den 50ern und 60ern zum Idol von Millionen Menschen in Deutschland und blieb nach seinem Karriereende neben Fritz Walter der wohl beliebteste Fußballer des Landes. Nun ist er im Alter von 85 Jahren verstorben.
Mit ihm verliert der deutsche Fußball eine der letzten ganz großen Identifikationsfiguren. Einen, der in vielen Familien von der Großeltern- bis zur Enkelgeneration bewundert und gemocht wurde. Seelers Spitzname war dabei Programm: "Uns Uwe". Einen solch besonderen Namen hatte keiner seiner Weggefährten. Normalerweise hören die Granden der deutschen Fußballgeschichte auf Namen wie "Kaiser" (Franz Beckenbauer), "Bomber" (Gerd Müller) oder "König" (Otto Rehhagel). Aber "Uns Uwe"? Gerade in der Enkelgeneration wussten viele oft nicht so recht, was der sonore ältere Herr aus "Hamburch" eigentlich mit "uns" zu tun hatte. Wenn sie ihn dann aber im Fernsehen sahen, erschien plötzlich alles ganz logisch.
Trotz dauerndem Trubel um seine Person zeigte sich Seeler nahbar und ohne Allüren. "Dafür nich", war eine seiner Standardentgegnungen, wenn sich mal wieder jemand für ein Autogramm oder ein Selfie bedankte. Und das noch mit Mitte 80. Unter den durchgestylten Instagram-Fußballern heutiger Tage, denen Selbstdarstellung auf und außerhalb des Platzes mindestens so wichtig zu sein scheint wie das Fußballspiel an sich, wäre Seeler eine Ausnahmeerscheinung gewesen. Bodenständig, bescheiden und sich selbst nicht allzu ernst nehmend.
"Würde es ihn nicht geben, müsste man ihn erfinden"
Und gerade darin begründete sich seine Beliebtheit bei unterschiedlichen Altersgruppen. "Das Schönste auf der Welt ist es, normal zu sein. Ich bin stinknormal, und das gefällt mir", verriet der Träger des Bundesverdienstkreuzes einmal. Und so verhielt er sich auch. Der "Dicke", wie er von vielen Fans liebevoll genannt wurde, drängte sich nicht in den Vordergrund. Er hielt mit seiner Meinung aber auch nicht hinterm Berg, wenn er gefragt wurde. Immer geradeaus und manchmal mit dem Schalk im Nacken. "Fantastisch, diese Bodenständigkeit und Offenheit. Würde es den Dicken nicht geben, müsste man ihn erfinden", sagte Seelers Freund Horst Hrubesch zu dessen 85. Geburtstag.
Aus bestimmten Dingen mehr zu machen, als sie es aus seiner Sicht verdienten, war nicht Seelers Sache. Statt im schicken Blankenese wohnte er in einem Häuschen in Norderstedt-Harksheide. Übermäßiger Schnickschnack interessierte ihn nicht. Auch nicht auf dem Fußballplatz: "Ich habe in meiner Karriere viele schöne und auch wichtige Tore gemacht. Es waren Fallrückzieher-, Flugkopfball- oder auch Hinterkopftore dabei. Aber ich war immer einer, der nie in Schönheit gestorben ist", sagte Seeler in einem Fifa-Interview. Wichtig war das Wesentliche, auch wenn es mal nicht so filigran aussah. "Für mich war es das Schönste, wenn der Ball gerade so eben hinter der Linie lag."
Instinktiv, mit eingebauter Torgarantie
Und das gelang dem 1,68 Meter großen Seeler oft. Sehr oft. Über 1.000 Treffer werden ihm insgesamt in Nachwuchs- und A-Teams zugeschrieben – im Trikot "seines" HSV und der deutschen Nationalmannschaft. Den schönsten davon machte er im WM-Viertelfinale 1970 gegen England. Mit dem Hinterkopf. Ohne das Tor überhaupt im Blick zu haben. Instinktiv. Kein Problem für einen wie Seeler, einen mit eingebauter Torgarantie. Seine Frau Ilka, mit der er über sechs Jahrzehnte durch dick und dünn ging, wusste das: "Er hat sich eingesetzt. Dass er’s gemacht hat, war für mich klar", sagte sie in einer NDR-Dokumentation.
Seeler war eine Klasse für sich – und zwar nicht nur im deutschen Fußball. Zwischen 1959 und 1970 wurde er vom Fußballmagazin "Kicker" in der halbjährlichen Rangliste 14-mal als "Weltklasse" eingestuft. Nach einem wie ihm würden sich die auf globale Vermarktung getrimmten und nach Superstars lechzenden Klubs aus Paris, Manchester und Madrid heute die Finger lecken. Ähnlich war es auch 1961, als Inter Mailand anklopfte. Trainer Helenio Herrera reiste höchstselbst nach Hamburg, um Seeler zum italienischen Spitzenklub zu lotsen. Die Verhandlungen dauerten drei Tage. Das Ende war eine Sensation: Seeler verzichtete auf 1,2 Millionen Mark – damals eine irrwitzige Summe – und blieb beim HSV. Spätestens dieses Nein machte den gebürtigen Hamburger schon zu Lebzeiten zu einer Legende – und zwar nicht nur in der Hansestadt.
"Glücklich und zufrieden"
Seelers Begründung klingt wie aus einem Bilderbuch der Fußballromantik: "Wir waren glücklich und zufrieden", sagte Seeler kurz vor seinem Tod. Eine entscheidende Rolle spielte dabei auch seine Frau Ilka – obwohl beide schon darüber nachgedacht hatten, was mit Haus und Hund in Hamburg passieren sollte. Doch sie blieben – eine Entscheidung, die Seeler nie bereute, wie er sagte. Auch wenn der neben Gerd Müller wohl torgefährlichste deutsche Fußballer dadurch nicht in der legendären Inter-Mannschaft spielte, die in den Jahren danach zweimal den Landesmeisterpokal holte und den Fußball revolutionierte.
- Die Fußballwelt trauert: "Einer der Größten, die wir je hatten"
Seeler holte dagegen "nur" einmal die Deutsche Meisterschaft. 1960, noch bevor die Bundesliga gegründet wurde. Und auch mit der Nationalelf blieb dem robusten Mittelstürmer der ganz große Wurf versagt – unter anderem durch das wohl berühmteste Tor der Fußballgeschichte: das Wembley-Tor im WM-Finale 1966 gegen England. Bis zuletzt war er überzeugt, dass der Ball nicht hinter der Linie war. "Das wird dir jeder sagen. Selbst die Engländer hatten ja kein sauberes Gewissen", sagte der damalige Kapitän der DFB-Elf in einer TV-Dokumentation. Und obwohl er nach dem 4:2 wie ein begossener Pudel vom Platz schlich – ein Bild davon wurde übrigens zum Sportfoto des Jahrhunderts gewählt –, verhielt er sich nach dem Abpfiff vorbildlich. In England wurden ihm deshalb auch Jahre später noch große Sympathien entgegengebracht.
1972 machte Seeler dann Schluss mit dem aktiven Fußball. Natürlich bei "seinem" HSV. Dem hatte er sich bereits 1946 als Zehnjähriger angeschlossen. Zuvor spielte Seeler auf den Straßen der zerstörten Hansestadt mit mühsam geflickten Bällen. Die gut zwölf Kilometer zum Trainingsgelände fuhr er mit dem Fahrrad.
Unwürdig vom Hof gejagt
Wer das von klein auf gewöhnt ist, geht mit seinem Klub durch dick und dünn. 1995 übernahm er sogar mal das Präsidentenamt bei den Rothosen, wurde 1998 allerdings wieder vom Hof gejagt. "Unwürdig", wie Ex-Tagesschausprecherin Dagmar Berghoff, die damals im Aufsichtsrat des Klubs saß, noch heute sagt. Seelers Zuneigung zum HSV tat das keinen Abbruch – und seiner Popularität bei den Fans auch nicht.
Vor dem Volksparkstadion steht heute eine Bronzeplastik seines rechten Fußes – im Maßstab 20:1. Zugegebenermaßen ein etwas ungewöhnliches "Denkmal", aber eines, das zu Seeler passt. Denn von Weitem ist gar nicht zu erkennen, um welchen berühmten Fuß es sich handelt. Und das muss es auch nicht, denn eigentlich ging es Seeler ja immer um das Stadion daneben. So sagte er 2005 bei der Enthüllung der Plastik: "Ich bin über die Ehrung sehr stolz. Ich wünsche mir, dass dieser Fuß dem HSV viel Glück bringen wird."
Mit sich im Reinen
Zuletzt war das nicht der Fall. In Seelers letzten Lebensjahren stieg sein Herzensklub in die zweite Liga ab – und blamierte sich dort gegen Teams wie Heidenheim oder Sandhausen. Einer seiner größten Wünsche war bis zuletzt, dass "sie wieder in die erste Liga kommen".
Auch wenn dieser Wunsch zu seinen Lebzeiten unerfüllt blieb, war Seeler am Ende mit sich im Reinen. In einer anlässlich seines 85. Geburtstags aufgenommenen Dokumentation sagt er zum Schluss: "Ich bin sehr zufrieden, mein Leben war wunderbar und das habe ich meiner Frau zu verdanken." Diese drückt fest seine Hand und entgegnet: "Ich fand das toll. Mein Leben war richtig so." Zum Schluss spricht Seeler über den Tod. "Hamburg wird immer ne schöne Stadt sein – auch ohne Uwe Seeler", sagt er mit Tränen in den Augen. Ein Satz, wie er typischer nicht sein konnte für "Uns Uwe".