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Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet."Er sitzt Kreml-Narrativen auf" Daniele Gansers Ukraine-Behauptungen im Faktencheck
Daniele Ganser füllt derzeit deutschlandweit große Hallen mit Vorträgen zum Krieg in der Ukraine. Doch seine Aussagen sind einseitig oder falsch, sagt ein Experte.
Inhaltsverzeichnis
- Behauptung 1: Der Krieg in der Ukraine begann bereits im Jahr 2014 als Bürgerkrieg. Er basiert auf einem durch die USA gelenkten Putsch.
- Behauptung 2: Die Bewohner von Krim und Donbass haben demokratisch in Referenden entschieden, Bürger Russlands zu sein.
- Behauptung 3: Für Ganser befindet sich Deutschland durch Waffenlieferungen und Ausbildung von ukrainischen Soldaten im Krieg mit Russland.
- Behauptung 4: Während Russland seine Soldaten aus der ehemaligen DDR abzog, haben die USA Russland mit der Nato-Osterweiterung im Jahr 1999 weiter provoziert.
- Hintergrund zum Beitrag
Der "Verschwörungsunternehmer" Daniele Ganser, wie ihn der Tübinger Verschwörungs-Experte Michael Butter nennt", tourt derzeit durch Deutschland. In seinem Programm geht es in weiten Teilen auch um Russlands Krieg in der Ukraine – so etwa in Hannover. Dabei stellt er immer wieder Behauptungen auf, die aus Sicht der Wissenschaft nicht haltbar sind. Er verkauft sich dabei als Friedensforscher und promovierter Historiker.
Für Klaus Gestwa, Osteuropaforscher an der Universität Tübingen, ist das Etikettenschwindel: "Ganser ist weder Osteuropaexperte noch Politikwissenschaftler. Er kennt sowohl die Sprachen und die Länder als auch deren Geschichte, Kultur und Politik nicht", sagt er zu t-online. "Vor allem von der Ukraine versteht er nichts und macht sich noch nicht einmal die Mühe, sich Wissen durch die Lektüre der einschlägigen Fachliteratur anzueignen, die mittlerweile leicht zugänglich ist."
"Ganser zelebriert sich als 'Friedensforscher'", sagt Gestwa. "Weil er aber einfach die Kreml-Narrative nachplappert, erweist er sich allerdings als ahnungsloser Friedensschwurbler, der keine Bedenken zeigt, die Ukraine dem Putin-Russland als politische Opfergabe auszuhändigen."
Dem Direktor des Instituts für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde der Tübinger Universität ist es daher ein großes Anliegen, mit den Mythen, Halbwahrheiten und Lügen aufzuräumen, die Daniele Ganser in seinen meist ausverkauften Veranstaltungen sowie Internetauftritten verbreitet.
Klaus Gestwa
Prof. Dr. Klaus Gestwa ist seit 2009 Direktor des Instituts für Osteuropäische Geschichte und Landeskunde an der Eberhard Karls Universität in Tübingen. Er forscht zur Zeitgeschichte Russlands und der Ukraine. Während der vergangenen Jahre war er an mehreren internationalen Forschungsprojekten mit russischen und ukrainischen Kolleginnen und Kollegen beteiligt. Bis zum Ausbruch der Corona-Pandemie war er regelmäßig zu Forschungsaufenthalten sowohl in Russland als auch in der Ukraine.
"Seiner Anhängerschaft sollten wir erläutern, dass Ganser komplexe Sachverhalte mit seinem polit-esoterischen Firlefanz und Binsenwahrheiten banalisiert", so Gestwa.
Für t-online hat der renommierte Osteuropaforscher daher die vier Kernthesen Daniele Gansers auseinandergenommen und eingeordnet.
Behauptung 1: Der Krieg in der Ukraine begann bereits im Jahr 2014 als Bürgerkrieg. Er basiert auf einem durch die USA gelenkten Putsch.
Gestwa: Die Osteuropawissenschaften betonen seit Längerem, dass Russlands Krieg gegen die Ukraine schon mit der Annexion der Krim sowie mit dem Moskauer Interventionskrieg im Donbass im Jahr 2014 begonnen hat. Das Kriegsgeschehen im Donbass forderte bis Anfang 2022 schon 14.000 Tote; 2,5 Millionen Menschen verloren ihre Heimat.
Daniele Gansers Bezeichnung des Euromaidans als US-gesteuerter Putsch ist allerdings schlichtweg Unsinn, mit dem er ganz dem von der Kremlpropaganda verbreiteten Narrativ folgt und sich gegen die Osteuropaforschung stellt. Es liegen zahlreiche seriöse Studien vor, dass der Euromaidan die größte demokratische Massenbewegung in Europa seit der Wende 1989/91 war. Diese Untersuchungen blenden auch keineswegs heikle Themen wie die Teilnahme rechtsextremer Kräfte aus; zugleich machen sie aber deutlich, dass diese das politische Gesamtgeschehen damals kaum beeinflussen konnten.
Der Euromaidan politisierte und mobilisierte 2013/2014 in den meisten Regionen der Ukraine generations- und schichtenübergreifend Millionen von Menschen, die sich gegen das korrupte und repressive Janukowitsch-Regime zur Wehr setzten. Dieses hatte im November 2013 auf massiven Druck Moskaus die Unterzeichnung des zuvor über Jahre hinweg ausgehandelten Assoziierungsabkommens mit der EU ausgesetzt. Die Menschen in der Ukraine sahen sich um ihre Zukunft gebracht und reagierten entrüstet, dass das Janukowitsch-Regime die zuerst protestierenden Studenten in Kiew mit Gewalt überzog.
"Schon von der wissenschaftlichen Begrifflichkeit her passt die Putschthese überhaupt nicht"
Klaus Gestwa
Die in der Ukraine demonstrierenden Menschen waren sicher keine Marionetten der USA. Die Zivilgesellschaft hatte sich als eine wachsende politische Kraft formiert, um angesichts des vielfältigen Versagens der ukrainischen Staatsmacht auf mehr politische Teilhabe zu dringen. Die USA sowie die EU konnten diese stürmischen gesellschaftlichen Prozesse kommentieren und moderieren, aber keinesfalls initiieren.
Putsch oder Staatsstreich meint im Übrigen, dass eine kleine Gruppe von staatlichen Funktionsträgern in einer instabilen politischen Situation die Gelegenheit ergreift, einen Umsturz herbeizuführen und die Macht zu ergreifen. Der Euromaidan war aber nicht die politische Aktion einer kleinen Gruppe, sondern eine revolutionäre Volksbewegung. Schon von der wissenschaftlichen Begrifflichkeit her passt die Putschthese überhaupt nicht.
Durch den Euromaidan wurde der damalige Präsident Janukowitsch auch nicht gestürzt; er floh vielmehr nach Russland, weil er sowohl die Unterstützung seiner Partei als auch die der Sicherheitsapparate verloren hatte. Anders als im Rahmen internationaler Vermittlung abgesprochen, entzog er sich damit seiner politischen Verantwortung, einen geordneten Regierungswechsel auf den Weg zu bringen.
In der ukrainischen Verfassung war der Fall einer Präsidentenflucht nicht vorgesehen. Deshalb wurde eine Interimslösung gefunden, und alsbald wurden Präsidentschafts- sowie Parlamentswahlen organisiert, die – ordentlich durchgeführt und bestätigt durch Beschlüsse sowohl des Parlaments als auch des Verfassungsgerichts – zu demokratisch abgesicherten neuen politischen Verhältnissen führten. Die rechtspopulistischen Parteien erlitten dabei eine schwere Wahlpleite; ihr Stimmenanteil halbierte sich, was ihre marginale politische Rolle unterstrich.
Behauptung 2: Die Bewohner von Krim und Donbass haben demokratisch in Referenden entschieden, Bürger Russlands zu sein.
Gestwa: Das ist falsch. Der Euromaidan löste keinen Bürgerkrieg in der Ukraine aus. Die Annexion der Krim war – wie Putin und der Kreml bald selbst stolz erklärten – ein geheimdienstlich sorgsam in Moskau vorbereiteter Landraub und keineswegs eine Abspaltung, wie Ganser immer betont. Diesen Scheinreferenden fehlt jegliche demokratische Legitimität. Die Höhe der Wahlbeteiligung und der Zustimmung ist zudem stark verfälscht wiedergegeben worden, wie russische Regierungsstellen selbst einräumten.
Auch im ostukrainischen Donbass gab es im Frühjahr 2014 zwar Unmut angesichts der politischen Entwicklungen in Kiew, aber keinen starken politisch organisierten Separatismus. Nur die massive russische Einmischung führte dazu, dass die beiden sogenannten Volksrepubliken Luhansk und Donezk als mafiös verfasste Pseudostaaten von Moskauer Gnaden entstanden. Sie boten dem Kreml die Möglichkeit, jederzeit destabilisierend auf die politische Situation in der Ukraine einwirken zu können. Das im Donbass entfachte Kriegsgeschehen war ein russischer Interventionskrieg.
"Ungeniert plappert Ganser die Lügen der russischen Desinformationsmaschinerie nach und wird zum reichweitenstarken Putin-Troll"
Klaus Gestwa
Der dafür zuständige Moskauer Geheimdienstler Igor Girkin hat die subversive Vorgehensweise wiederholt freimütig erläutert. Zudem hat die Osteuropaforschung auf solider Quellenlage ein klares Bild von diesen Geschehnissen gezeichnet. Diesen gesicherten Forschungsstand ignoriert Ganser komplett und bastelt sich aus dubiosen Informationsbrocken sowie Fake News eine eigene Argumentation, mit der er ganz im Fahrwasser der russischen Staatspropaganda bleibt.
Pseudoreferenden gab es in den beiden Volksrepubliken sowie in den Gebieten Cherson und Saporischschja erst im September 2022. Sie waren eine Wahlfarce. Wir können uns doch noch alle an die durchsichtigen Wahlurnen erinnern, in denen die Wahlzettel offen eingesehen werden konnten. Zudem gingen Wahlteams zusammen mit bewaffneten Soldaten von Tür zu Tür, um die Menschen zur Abstimmung anzuhalten.
Wer das als einen demokratischen Prozess bezeichnet, muss mit einer blühenden politischen Fantasie gesegnet sein. Ungeniert plappert Ganser die Lügen der russischen Desinformationsmaschinerie nach und wird damit zu einem reichweitenstarken Putin-Troll.
Behauptung 3: Für Ganser befindet sich Deutschland durch Waffenlieferungen und Ausbildung von ukrainischen Soldaten im Krieg mit Russland.
Gestwa: Auch mit dieser Aussage bleibt Ganser nah beim Kreml-Narrativ. Das Kriegsvölkerrecht erlaubt es im Fall eines Angriffskriegs, dass Drittstaaten das überfallene Land mit allem zu seiner Verteidigung Notwendigen unterstützen. Dazu gehören auch Waffenlieferungen. Nach langen Diskussionen hat sich Deutschland entschlossen, von seinem Recht auf Unterstützung der Ukraine Gebrauch zu machen und Panzer zu liefern, die dort dringend benötigt werden.
Völkerrechtlich gesehen ist Deutschland damit keineswegs Kriegspartei geworden. Dieser klare Tatbestand ficht Ganser allerdings nicht an, weil er mit der drohenden Kriegseskalation gerade seinem deutschen Publikum Angst einflößen will, um so die gesellschaftlichen Spaltungsprozesse zu vertiefen und mit seinem Polit-Hokuspokus Reibach zu machen.
Behauptung 4: Während Russland seine Soldaten aus der ehemaligen DDR abzog, haben die USA Russland mit der Nato-Osterweiterung im Jahr 1999 weiter provoziert.
Gestwa: Diese These ist altbekannt und dient dazu, Russland zu entlasten und der Nato sowie den USA zumindest eine Teilschuld am aktuellen Kriegsgeschehen zuzuweisen. Das vom Kreml verbreitete Zerrbild vom durch die Nato umzingelten, ständig gedemütigten und bedrohten Russland vermittelt die Vorstellung, Russland agiere immer aus einer strategischen Defensive heraus. Die Annexion der Krim lässt sich so als Akt politischer Notwehr und der aktuelle Angriffskrieg als ein Präventivkrieg verkaufen.
Dieses Mantra der Moskauer Propaganda greift Ganser geflissentlich auf, weil es wunderbar zu seinem simplen Antiamerikanismus passt, der für alles politische Übel auf der Welt stets die Mächtigen in Washington verantwortlich macht.
"Weil Putin nicht als Modernisierer Geschichte schreiben kann, will er es unbedingt als Kriegsherr und Eroberer"
Klaus Gestwa
Die Ursachen für den russischen Angriffskrieg liegen nicht in geostrategischen Großmachtkonkurrenzen, in dem Ringen um Einflusszonen und in kapitalistischer Profitgier, sondern in den neoimperialen Ambitionen von Putins Revanchismus und Revisionismus, die ganz auf seinen Machterhalt konzentriert sind. Weil Putin nicht als Modernisierer Geschichte schreiben kann, will er es unbedingt als Kriegsherr und Eroberer, um so die Gesellschaft hinter sich zu zwingen.
Der Beitritt der ostmitteleuropäischen Staaten zur Nato in mehreren Erweiterungsrunden seit 1999 ist sicher ein zeithistorischer Streitfall. Dabei ist zu bedenken, dass der Beitrittswunsch von den ostmitteleuropäischen Staaten an die Nato herangetragen wurde, weil diese ihre 1989 und 1991 erworbene vollumgängliche Souveränität durch das Erstarken neoimperialer Kräfte in Russland bedroht sahen. Mit dem ersten Tschetschenienkrieg 1994–96 hatte Moskau klargemacht, bei der Durchsetzung seiner Machtinteressen auch massive militärische Gewalt einzusetzen.
In der Nato gab es zunächst kontroverse Diskussionen um die Osterweiterung. Um die Sicherheitsinteressen Russlands mit zu berücksichtigen, kam es deshalb 1997 zur Unterzeichnung der Nato-Russland-Grundakte und 2002 zur Gründung des Nato-Russland-Rats. Diese Abkommen sahen vor, dass in den neuen Nato-Mitgliedsstaaten nie mehr als 5.000 Nato-Soldaten stationiert werden sollten. Zudem wurden dort keine Militärstützpunkte errichtet. So kam es zu keiner militärischen, sondern nur zu einer politischen Osterweiterung. Das macht einen erheblichen Unterschied.
Putin selbst hatte auch lange Zeit keine Probleme mit der Nato. Es gab sogar Überlegungen, ob Russland nicht auch der Nato beitreten sollte. Den baltischen Staaten gratulierte Putin sogar 2004 zu ihrem Beitritt und erklärte: "Hinsichtlich der Nato-Erweiterung haben wir keine Sorgen mit Blick auf die Sicherheit der Russischen Föderation." Auch im Beitritt der Ukraine sah Putin damals keinerlei Bedrohung und verkündete, als souveräner Staat habe die Ukraine selbstverständlich das Recht auf freie Bündniswahl.
"Auch an diesem Punkt sitzt Ganser wieder ganz den Kreml-Narrativen auf. Damit steht er allerdings nicht allein"
Klaus Gestwa
Die politische Stimmung wurde seit 2007 allerdings frostiger. Die Administration von George W. Bush drängte auf den Bau von Raketenabwehrstationen in Polen und Rumänien. Dafür war der wichtige ABM-Vertrag gekündigt worden, der eine Begrenzung der gegen Interkontinentalraketen gerichteten Abwehreinrichtungen vorsah. Bushs Raketenabwehr diente dazu, sich gegen aus dem Nahen Osten abgeschossene Langstreckenraketen zu verteidigen (die es bis heute nicht gibt) – aber Russland bezog diese Abwehrmaßnahme auf sich.
Der US-Vorschlag, in einer neuen Erweiterungsrunde Georgien und die Ukraine in die Nato aufzunehmen, traf nicht nur in Moskau auf harsche Kritik. Beide Länder erfüllten die Beitrittsbedingungen damals nicht. Auf dem Bukarester Nato-Gipfel im April 2008 legten Deutschland und Frankreich darum ihr Veto ein, auch um die Beziehungen zu Russland nicht weiter zu verschlechtern.
Als Kompromiss entschied die Nato damals, kein Beitrittsverfahren zu eröffnen, aber im Rahmen der "Politik der offenen Türen" Georgien und der Ukraine in Aussicht zu stellen, sie könnten in der Zukunft einen Aufnahmeantrag stellen, sollten die Beitrittskriterien erfüllt sein. Damit steht bis heute der Nato-Beitritt der Ukraine nicht mehr auf der Tagesordnung der europäischen Politik, selbst wenn die Regierungen in Kiew ihr Beitrittsziel beständig untermauerten und die USA die Rhetorik der offenen Türen wiederholte, ohne aber konkrete Schritte einzuleiten.
So umstritten die Bush-Initiative 2008 auch war – es ist überzogen, daraus ein Bedrohungsszenario für Russland abzuleiten, um damit den Angriffskrieg gegen die Ukraine zu legitimieren. Auch an diesem Punkt sitzt Ganser wieder ganz den Kreml-Narrativen auf. Damit steht er allerdings nicht allein da. Auch andere, die mehr Empathie für den bedrohten und erniedrigten Putin als für die brutal überfallene und schwer verwundete Ukraine zeigen, entlasten den russischen Kriegsaggressor nur zu gern, indem sie wenig differenziert und unreflektiert die erweiterte Nato als internationales Schreckensbild deuten.
Hintergrund zum Beitrag
Wir haben die Kernthesen zum Ukraine-Krieg aus Daniele Gansers Vortrag in Hannover herausgearbeitet und Klaus Gestwa gebeten, sie aus wissenschaftlicher Perspektive einzuordnen.
- Eigene Recherchen
- Schriftliche Anfrage bei Prof. Klaus Gestwa, Universität Tübingen