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Zum journalistischen Leitbild von t-online."Wirklich helfen können wir denen nicht" Kölner Gericht verurteilt Angeklagte in 20 Minuten
Exhibitionisten, Taschendiebe, Obdachlose, die freiwillig in Haft überwintern möchten: Vor dem Schnellgericht werden Fälle verhandelt, wenn die Täter keinen festen Wohnsitz haben.
Bevor es im Saal 18 des Amtsgerichts in Köln richtig losgehen kann, kümmern sich Richterin und Wachtmeister um praktische Fragen: Zwischen den Sitzplätzen müssen noch einige zusätzliche Trennscheiben aufgestellt werden. Der Raum ist klein, im Laufe des Vormittags werden sich hier viele Leute die Klinke in die Hand geben.
Es tagt das Schnellgericht. Auf dem Plan stehen für diesen Tag neun Verhandlungen, für jede sind 20 bis 25 Minuten eingeplant. Das scheint kurz, ist aber am Amtsgericht nicht unüblich.
Schnellgericht für Menschen ohne festen Wohnsitz
"Schnellgericht" heißt nicht etwa, dass hier mit heißer Nadel Urteile gestrickt werden, sondern bezieht sich auf etwas anderes, erklärt Gerichtssprecher Maurits Steinebach: "Für das beschleunigte Verfahren muss die Beweislage geeignet sein – also relativ deutlich, und der Sachverhalt muss einfach sein."
Dazu komme ein anderer Aspekt: Vor dem Schnellgericht stehen Menschen, die in Deutschland keinen festen Wohnsitz und keine Postadresse haben. Die Justiz hätte also keine Möglichkeit, sie später zu einem Verfahren zu laden. Die Behörden müssen sofort handeln, dürfen die Beschuldigten bis zum Prozess aber nicht länger als sieben Tage inhaftieren. Deswegen wird keine Tat, die heute angeklagt ist, länger als eine Woche zurückliegen.
Diebstähle und gefälschte Papiere
Nun wird noch auf die Arabisch-Dolmetscherin gewartet. Als eine große Frau mit dunkelblonden Haaren den Saal betritt, reagiert Staatsanwältin Nicole Auerbach irritiert, denn es stellt sich heraus, dass der Angeklagte eigentlich einen Kurdisch-Dolmetscher bräuchte. "Mein Deutsch ist besser als mein Arabisch", bringt der 34-Jährige selbst auf Deutsch hervor. Kurze Ratlosigkeit. Schließlich meint er, auf Deutsch und Arabisch werde es schon gehen. Er gibt zu, dass er versucht hat, sich mit gefälschten griechischen Papieren als EU-Bürger auszugeben, obwohl er in Deutschland kein Aufenthaltsrecht hat. Dafür erhält er nun eine Geldstrafe von 35 Tagessätzen zu je vier Euro.
Zwei andere Männer kommen später mit einer Verfahrenseinstellung davon: Auch sie haben gegen das Aufenthaltsgesetz verstoßen, hatten aber keine gefälschten Papiere. Es folgt eine Reihe von versuchten Ladendiebstählen. Zwei junge Männer, die bei ihrer Vorführung Markenkleidung tragen, wollten Shirts bei einem Herrenausstatter stehlen.
Ein anderer Mann hat mit einem Freund im Supermarkt geringwertige Elektroartikel, ein Sandwich und ein Getränk eingesteckt – dann allerdings auch noch dem Türsteher eine Getränkekiste über den Kopf gezogen, nachdem der ihn gestellt hatte: Schon geht es nicht mehr nur um Diebstahl, sondern auch um Körperverletzung. Sie alle werden mit Geldstrafen zwischen 50 und 65 Tagessätzen von je vier Euro in die Freiheit entlassen.
"Im Knast ist es besser als auf der Straße"
Tadelnde Worte, zusätzlich zur Geldstrafe, hat Richterin Barbara Hünten für einen 22-Jährigen: Er hat das Portemonnaie einer älteren Dame gestohlen. Zwar steckten nur 30 Euro darin, "aber es hätten auch Sachen darin sein können, die für das Opfer wertvoll waren oder deren Verlust sehr unangenehm gewesen wäre. Die Schwächen des Alters auszunutzen, ist nicht in Ordnung!"
Ein arbeitsloser Schweißer, der seit anderthalb Jahren auf der Straße lebt, wollte im Discounter gerade genug stehlen, um festgesetzt zu werden und in der Haft überwintern zu dürfen. Stattdessen wird das Verfahren gegen ihn eingestellt. "Im Knast ist es besser als auf der Straße. Aber, na ja, jetzt scheint die Sonne, da kann ich noch ein bisschen draußen bleiben", sagt der Mann.
Staatsanwältin: "Das war eine Notsituation"
Unruhe entsteht, als ein Mann und eine Frau den Saal betreten, die bei Saturn ein Smartphone für rund 1.000 Euro stehlen wollten. Als die Frau ihrem Partner die Hand auf den Oberarm legt, guckt der Wachtmeister streng. "Wir reden nicht", versichert eilig der Angeklagte. Absprachen zwischen möglichen Komplizen sind nämlich nicht erlaubt. Als beide einen Moment lang Blickkontakt haben, mahnt der Wachtmeister zur Sicherheit noch einmal: "Nicht reden!"
Beide geben zu: Sie wollten das Smartphone stehlen, um es zu verkaufen: "Wir leben momentan von einem Hartz-IV-Satz", begründet der Mann. Er habe ein Formular zu spät eingereicht, dadurch sei eine Lücke entstanden und das gemeinsame Budget reiche hinten und vorne nicht mehr. Seine Freundin, Mutter von zwei Kindern, bricht immer wieder in Tränen aus. Nur zögernd gibt sie zu, dass nicht nur ihr Partner, sondern auch sie heroinabhängig ist.
Beide sind in einem Substitutionsprogramm. Den Beitrag, den sie dort leisten müssen, konnten sie ebenfalls nicht aufbringen und hatten Angst vor Entzugserscheinungen. "Das war eine Notsituation. Die kriminelle Energie sehe ich als sehr gering an", findet Staatsanwältin Auerbach. Sie beantragt, wie schließlich auch entschieden wird, für beide eine Strafe von 40 Tagessätzen zu je fünf Euro. "Alles Gute", ruft sie noch, als das Pärchen den Saal verlässt.
Pflichtverteidigerin sorgt sich vor Läusen
Im letzten Fall des Tages geht es um einen Exhibitionisten. Seine Pflichtverteidigerin, eine junge Anwältin mit leuchtend bunter Designerhandtasche, sorgt sich schon im Vorfeld, ob die Abstände zwischen den Stühlen groß genug sind: "Der hat Läuse, haben die mir in der Justizvollzugsanstalt gesagt. Ich hatte gehofft, dass wir die Verhandlung verschieben könnten, damit die Läuse-Kur bis dahin hätte wirken können." Kurz regt sie an, das Verfahren einzustellen. Richterin und Staatsanwältin lehnen das ab. "Der wird ja behandelt worden sein. Die Läuse werden tot sein", mutmaßt die Richterin.
Als der Mann schließlich vorgeführt wird, muss seine Verteidigerin sich einer Herausforderung stellen: "Die haben mir im Gefängnis ein Spray gegeben, aber ich habe das nicht benutzt. Ich habe keine Flöhe", meint der Angeklagte, dessen Gesicht unter einem wirren Haarschopf und hinter seinem Bart nur teilweise zu sehen ist. Er entschuldigt sich für die Tat und sagt, dass er in der Vergangenheit zeitweise in der Psychiatrie gewesen ist. "Haben Sie dort Tabletten bekommen?", möchte die Staatsanwältin wissen. "Nein, Honig mit Milch. Dann bin ich gesund geworden", erklärt der Mann. Die Staatsanwältin schaut verblüfft und fragt: "Hören Sie manchmal Stimmen, die andere vielleicht nicht hören?" Erst verneint der Mann, dann schiebt er nach: "Manchmal."
"Eigentlich müssten wir hier Streetworker sitzen haben"
Richterin und Staatsanwältin kommen zu dem Schluss, dass bei ihm eine Psychose nicht auszuschließen ist und er begutachtet werden müsste. "Der Fall ist für das beschleunigte Verfahren nicht geeignet. Ein anderer Kollege wird sich damit beschäftigen müssen", erklärt Barbara Hünten. Bis dahin ist der Mann erst einmal wieder auf freiem Fuß.
"Eigentlich müssten wir hier Streetworker sitzen haben, die mit den Leuten direkt eine Lösung für ihre Probleme erarbeiten", meint Nicole Auerbach. Teilweise suchen sie und die Richterin Adressen von Hilfsdiensten heraus, um den Verurteilten bessere Chancen für die Zukunft zu geben: der Sozialdienst Katholischer Männer, die Caritas, eine Notschlafstelle. Ob sie sie nutzen werden, ist unklar. "Wirklich helfen können wir denen nicht", bedauert die Staatsanwältin.
- Eigene Beobachtungen während der Verhandlungen