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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Betroffene über queerfeindliche Angriffe "Ich hatte nicht erwartet, dass mir in Köln etwas passiert"
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In der Nacht des Angriffs arbeitet Léon G. im LSBTIQ*-Jugendzentrum "Anyway" hinter der Theke. Es ist Spätsommer 2019, ein Wochentag, gegen ein Uhr, er will die letzte Bahn nach Hause nehmen. Die Straßen der Innenstadt sind leer. Ein paar Meter neben der Tür des "Anyway" stehen drei Männer in seinem Alter, sie wirken angetrunken. Das Wort "Schwuchtel" fällt. Léon schiebt sich Kopfhörer in die Ohren und überlegt, die Straßenseite zu wechseln, tut es aber nicht.
"Heute würde ich die Straßenseite wechseln", sagt der Student. Als er vorbeigehen möchte, wird er zunächst geschubst, dann halten zwei der Männer ihn fest. Der dritte Angreifer schlägt den damals 19-Jährigen. "Der Angriff kam so plötzlich, dass ich total überrumpelt wurde", erinnert sich Léon. Er ist wehrlos, niemand ist in der Nähe. Einige Minuten lang wird er geschlagen. Als der Angreifer zu einem Schlag gegen seine Magengrube ausholt, kann Léon sich eindrehen. Die Faust trifft nur den unteren Rücken. In diesem Moment kann er sich losreißen. Er rennt zur Bahn.
"Mir ist erst zuhause klar geworden, was passiert ist", sagt Léon. Zuvor hatte er nie Schwierigkeiten, weil er schwul ist: "Ich würde es in Köln nicht erwarten, dass jemand handgreiflich wird." Ein paar Tage später bringt er den Angriff zur Anzeige.
Anzahl der dokumentierten Angriffe steigt
Angriffe gegen queere Menschen, egal ob verbal oder körperlich, werden von der Polizei zur politisch-motivierten Kriminalität gezählt. 2007 gab es in ganz NRW lediglich drei trans- und homophob motivierte Straftaten in der Polizeistatistik, 2016 waren es 16. Im vergangenen Jahr wurden durch die Polizei lediglich 30 Fälle von LSBTIQ*-feindliche Taten in ganz NRW erfasst. Vier dieser Straftaten waren in Köln.
Diese Zahlen gehen aus den jährlichen kleinen Anfragen der Grünen an die Landesregierung hervor. Der Pressesprecher der Kölner Polizei ist überrascht, dass die Angriffe der sexuellen Orientierung statistisch erhoben werden. Aus Datenschutzgründen sei dies eigentlich nicht möglich: "Die sexuelle Orientierung der Opfer hat uns als Polizei nicht zu interessieren." Mit welcher Motivation jemand attackiert würde, lasse sich deshalb nicht erheben.
Şefik a Gümüş von der Landeskoordination Anti-Gewalt-Arbeit für Lesben, Schwule und Trans* in NRW sieht das anders: "Es geht um die Motivation des Täters, nicht um die sexuelle Orientierung des Opfers." Dabei sei es irrelevant, ob ein Opfer tatsächlich queer ist oder nur so identifiziert wird. Wenn jemand mit "Schwuchtel" oder anderen Beleidigungen angegangen würde, handele es sich immer um eine homophobe Straftat. Deshalb ist es wichtig, dass die Polizei homophobe Taten so katalogisiert, dass sie für Statistiken gefunden werden können.
Anzeigenbereitschaft der Community gering
Die Landeskoordination möchte unter anderem mit der Kampagne "Ich zeige das an" mehr LSBTIQ*-Personen ermutigen, Fälle von Gewalt anzuzeigen und Polizistinnen und Polizisten durch Schulungen für die Thematik zu sensibilisieren. Studien zeigen, dass die Anzeigenbereitschaft in der Community gering ist. Die Gründe dafür sind vielfältig: Scham, das Nicht-Offen-legen-Mögen der eigenen Identität, aber auch Vorbehalte gegenüber der Polizei werden angeführt.
Als Vorbild gilt dabei Berlin: In der Hauptstadt wird kein Verfahren mit der Begründung eines mangelnden öffentlichen Interesses eingestellt, wenn es queerfeindlich ist. Denn bei hassmotivierten Taten wird immer ein öffentliches Interesse angenommen. Und es gibt für LSBTIQ*-Personen extra ausgebildete Ansprechpartnerinnen und -partner bei der Polizei und Staatsanwaltschaft. Dies soll Hürden abbauen und dazu führen, dass Betroffene mehr Angriffe melden.
Zudem erfasst auch ein Berliner Anti-Gewalt-Projekt, unabhängig von der Polizei, Angriffe und Beleidigungen gegen Schwule, lesbische Frauen und Transsexuelle. 2019 gab es 559 Fälle. Im gleichen Zeitraum zählte die Landeskoordination für ganz NRW 90 Fälle von Diskriminierung und Gewalt. 19 davon wurden zur Strafanzeige gebracht und tauchen damit auch in der Statistik auf. "Wir gehen von einem sehr hohen Dunkelfeld in NRW aus und wollen durch unsere Arbeit dieses Feld ein bisschen erhellen", meint Gümüş.
Die Landeskoordination der Anti-Gewalt-Arbeit für Lesben, Schwule und Trans* in NRW dokumentiert landesweit Diskriminierungs- und Gewaltfälle und hilft bei Fragen zur polizeilichen Strafanzeige von homo- und trans*feindlicher Gewalt. Mehr Informationen unter: vielfalt-statt-gewalt.de.
Auf queerfeindlichkeit.de können Betroffene Fälle von Gewalt anonym melden. Diese gemeldeten Vorfälle werden von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des "Anyways" auf einer Karte zusammengetragen und sollen Bewusstsein schaffen und anderen Betroffenen Mut machen, über Gewalt zu sprechen, sie anzuzeigen und sich Hilfe zu holen.
Wie groß die Dunkelziffer tatsächlich ist, zeigt eine Befragung des Jugendzentrums "Anyway" 2019 unter 150 Kölner Jugendlichen: 58 Prozent der LSBTIQ*-Jugendlichen gaben an, Beschimpfungen und Mobbing zu erleben. Am häufigsten passiert dies in Schule und Arbeitsplatz sowie auf der Straße. Fast jede und jeder vierte Jugendliche erlebte außerdem körperliche Angriffe, meist von fremden Personen oder Mitschülerinnen und Mitschülern.
"Unserer Erfahrung nach ist verbale Gewalt, etwa durch die Beleidigung 'Schwuchtel' auf dem Schulhof die am häufigsten wahrnehmbare Gewaltform", meint Falk Steinborn, der Pressesprecher des "Anyways". Viele Formen der Ausgrenzung wie etwa ungleiche Behandlung, Distanzierung, komische Blicke und der Verlust von Freundinnen und Freunden würden aber überhaupt nicht beachtet.
Queere Menschen fürchten die Ringe
Dabei gibt es Unterschiede in der Wahrnehmung von LSBTIQ*: "Schwule und bisexuelle Männerpaare werden eher aggressiv angepöbelt, während lesbische und bisexuelle Frauenpaare eher sexualisiert angepöbelt werden", sagt Steinborn.
"Die Leute fallen aus allen Wolken, wenn man erzählt, wie man das Leben in Köln als schwuler Mann erlebt", meint Aaron. Er erlebt alle paar Wochen verbale Gewalt in Form von Beleidigungen. Begegnet er einer Gruppe Jugendlicher oder junger Männer, lässt er die Hand seines Partners los. "Wenn ich Ohrringe trage oder anders aus dem Raster falle, überlege ich mir gut, ob ich über die Ringe radele oder beim Rudolfplatz umsteige", sagt der Student. Das Publikum auf den Ringen sei oft homophob, es würde ihn wundern, dass es nicht zu noch mehr Gewalt kommen würde.
Auch Martin hat zweimal innerhalb eines Jahres Übergriffe auf den Ringen erlebt: In der Phase nach seinem Coming-Out hatte der Student zunächst das Gefühl, dass man in Köln alles machen kann. Frisch verliebt und ein bisschen betrunken lief er mit seinem Partner abends von der Schaafenstraße über den Friesenplatz nach Hause. Drei aggressive Männer sprangen um das Paar herum, bepöbelten und bedrängten die beiden. Einer der Männer zückte sein Handy, um ein Foto zu machen oder ein Video zu drehen. "Ich war total verunsichert, weil ich das so nicht kannte", sagt Martin. Sein Freund sei souveräner gewesen und habe ihn schnell von dem Menschen weggezogen. Kurze Zeit später kam es zu einem ähnlichen Vorfall.
Als Konsequenz daraus läuft Martin auf den Ringen nicht mehr Händchenhaltend mit seinem Freund: "Ich habe nicht Angst zu zeigen, dass ich schwul bin, aber ich habe Angst vor Ärger." Er möchte vermeiden, dass eine Pöbel-Situation eskaliert und "dann doch mal einen Schlag abzubekommen".
Köln noch immer toleranter als andere Städte
Der 19-jährige Tim hingegen hat nie schlimme Erfahrungen gemacht: "Ich komme vom Dorf und bin super froh, in Köln zu wohnen", sagt er, "woanders ist die Atmosphäre wesentlich homophober". Zwar fühle er sich auf der Aachener Straße abends unwohl, weil er das Gefühl habe, dass hinter seinem Rücken geredet wird. Dies hält ihn aber nicht davon ab, dort entlangzugehen: "Ich bin das gewohnt, irgendwann stört das Getratsche nicht mehr."
Falk Steinborn fasst es zusammen: "Es gibt ein grundsätzlich lebensoffenes und bejahendes Klima in der Stadt, aber noch immer zu wenige Plätze, an denen sich LSBTIQ*-Personen völlig sicher fühlen können." Einer dieser Orte ist das "Anyway", ein anderer Ort war die Schaafenstraße – bis es auch hier zu einem homophon Angriff kam. Wie der Vorfall das Verhältnis der Community zu dem Ort verändert, ist nicht ganz klar: "Die Landeskoordination hat bisher keine Anfragen von queeren Personen zum Thema Schaafenstraße erhalten", meint Gümüş.
Léons Anzeige gegen seine Angreifer verlief ergebnislos. Nach einiger Zeit der Vorsicht fühlt er sich wieder sicher, Angst vor einem erneuten Übergriff hat er keine: "Der Angriff hat mich eher stärker gemacht, das ist aber Teil meines Charakters, andere Menschen wären damit bestimmt nicht so umgegangen." Der Angriff auf ihn und vor allem seine Sexualität zeige, dass es noch viel zu tun gäbe: "Die Annahme, dass queere Menschen komplett gleichgestellt sind, ist schlichtweg falsch."
- Gespräche mit Betroffenen
- Gespräch mit Falk Steinborn, Jugendmedienarbeit & Öffentlichkeitsarbeit Anyway Köln
- Gespräch mit Şefik_a Gümüş, Landeskoordination Anti-Gewalt-Arbeit für Lesben, Schwule und Trans* in NRW
- Kleine Anfragen der Grünen an die Landesregierung NRW 2017, 2019, 2020 und 2021
- Anfrage Polizei Köln
- "Berlin.de": "So viele Übergriffe gegen Homosexuelle wie noch nie"