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Köln: Mutter ließ Fünfjährige fast verhungern – neun Jahre Haft


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Urteil in Köln
Mutter ließ Tochter fast verhungern – neun Jahre Haft


Aktualisiert am 15.06.2021Lesedauer: 4 Min.
Die Angeklagte im Gerichtssaal: Sie verbarg zunächst ihr Gesicht hinter einem Schreibblock.Vergrößern des Bildes
Die Angeklagte im Gerichtssaal: Sie verbarg zunächst ihr Gesicht hinter einem Schreibblock. (Quelle: Johanna Tüntsch)

Lange Haftstrafen für Mutter und ihren Partner: Sie haben eine Fünfjährige über Monate so vernachlässigt, dass sie fast gestorben wäre. t-online hat den Prozess in Köln begleitet – die Details machen fassungslos.

Die Mutter eines kleinen Mädchens, das Mediziner im vergangenen Sommer gerade noch vor dem Hungertod retten konnten, soll nach dem Urteil der 11. Großen Strafkammer des Kölner Landgerichtes für neun Jahre ins Gefängnis.

Nach Einschätzung der Richter hat sie sich des versuchten Mordes und der Misshandlung von Schutzbefohlenen schuldig gemacht. In beiden Fällen mitschuldig sehen sie den Lebensgefährten, für den das Urteil jedoch etwas milder ausfällt, da er erst im späteren Verlauf der Dinge Teil der Familie wurde und somit auch erst später Verantwortung trug: Er soll eine Haftstrafe von sieben Jahren absitzen. Außerdem haben beide die Kosten des Prozesses zu tragen, der am Montag nach 14 Verhandlungstagen zu Ende ging.

Die fast zweistündige Urteilserklärung ließen die Angeklagte und ihr Lebensgefährte regungslos an sich vorübergehen. Die Verteidiger des jungen Paares hatten auf ein mildes Urteil plädiert und argumentiert, dass das Paar nicht vorsätzlich gehandelt habe. "Viel Liebe hat die Mutter dem Mädchen nicht entgegengebracht", meinte Richterin Sabine Kretzschmar: eine Formulierung, die angesichts der dann folgenden Schilderungen eher untertrieben anmutet.

Schon die Schwangerschaft soll konfliktreich verlaufen sein

Der leibliche Vater des Mädchens verließ die damals 17-jährige Mutter, weil er kein Kind wollte. Ihre eigene Mutter reagierte so abweisend, dass sie zeitweise zu ihrem Vater zog, dann jedoch aus Platzgründen wieder zu Mutter und Stiefvater. Noch während der Schwangerschaft lernte sie einen jungen Mann kennen, der sie bei sich aufnahm und sie heiratete. Die Ehe ist inzwischen geschieden, doch es ging ein Sohn daraus hervor, mit dessen Geburt das Leben des kleinen Mädchens zu einem Schattendasein wurde.

Immer wieder nahm die Vorsitzende Bezug auf die Wachstums- und Gewichtskurve der Kleinen, die bei den kinderärztlichen Vorsorgeuntersuchungen über die Jahre hinweg dokumentiert worden war. Demnach lag sie zunächst auf der "50-Prozent-Perzentile". Das bedeutet, dass 50 Prozent der Kinder leichter waren, 50 Prozent schwerer als sie – das Mittelfeld also. "Kinder sollten im Laufe ihres Lebens auf der gleichen Perzentile verbleiben", erläuterte Kretzschmar.

So dünne Kinder nur auf Fotos aus Hungergebieten

So war es in diesem Fall jedoch nicht: Die Kleine rutschte gegen Ende ihres zweiten Lebensjahres zunächst auf die 15-Prozent-Perzentile, womit nur noch 15 Prozent der Kinder gleichen Alters leichter waren als sie, später sogar dauerhaft auf drei Prozent und darunter. Bei ihrer Einlieferung ins Krankenhaus im August 2020 hatten Ärzte einstimmig geäußert, Kinder in einem solchen Zustand in Deutschland niemals gesehen zu haben, sondern nur von Fotos aus Hungergebieten zu kennen. Ein weiterer Zeuge, ein Erzieher, hatte ausgesagt, dass das Mädchen "nur noch Haut und Knochen" gewesen sei, bevor es eingeliefert wurde.

Detailreich hatten die Angeklagten, insbesondere die junge Mutter, immer wieder vermeintliche Erklärungen für den sich kontinuierlich verschlechternden Zustand des Mädchens angeführt. So verlas die Richterin in ihrer Urteilsbegründung mehrere Passagen aus Chats zwischen der Angeklagten und deren eigener Mutter, die aus den Wochen und Monaten vor Einlieferung des Kindes ins Krankenhaus stammten.

Darin erklärt die Angeklagte, die Tochter sei angeblich krank. Medizinisch wurde eine entsprechende Diagnose jedoch nie gestellt. Im Gegenteil: Mediziner konnten bei dem Kind – abgesehen von seiner Unterernährung und Entwicklungsverzögerung – überhaupt keine Auffälligkeiten, etwa eine Stoffwechselstörung oder Unverträglichkeiten feststellen und sahen eine Unterversorgung mit Essen als einzige Erklärung. "Ein bemerkenswerter Chatverlauf, wenn man sich vor Augen führt, dass ein Arztbesuch nicht stattgefunden hat", kommentierte Kretzschmar.

Mageres Kind auf Foto mit Filter geschönt

Ein anderes Mal schrieb die Angeklagte ihrer Mutter von einem angeblich bevorstehenden Umzug des Mädchens in eine Wohngruppe für behinderte Kinder, der laut Aktenlage zu keinem Zeitpunkt in die Wege geleitet wurde.

Während in Wirklichkeit Mitarbeiter des Jugendamtes einen unangekündigten Hausbesuch gemacht hatten, um sich nach dem Wohl des Kindes zu erkundigen, heißt es im Chat: Leute aus der Wohngruppe seien da gewesen, um den Alltag des Mädchens kennenzulernen.

Fragen ihrer Mutter nach Fotos der Enkeltochter wehrte sie ab, schickte lediglich am 1. August 2020 ein Bild, auf dem das erkennbar abgemagerte Mädchen zusammen mit dem jüngeren Bruder auf einem Rutschauto sitzt. "Sie bearbeitete das Bild mit einem Sternenfilter, um vom Zustand des Mädchens abzulenken", so Kretzschmar.

Da psychologisch der Angeklagten ein normales Intelligenzniveau attestiert worden war, schließen die Richter aus, dass sie die dramatische Lage ihres Kindes unterschätzte. Vielmehr schlussfolgert Kretzschmar in der Urteilsbegründung: "Sie war sich des Zustandes offensichtlich bewusst und begann, ihre Familie auf den Tod des Kindes vorzubereiten. Beide Angeklagten hielten den Tod des Kindes für möglich und fanden sich damit ab. Sie fürchteten aber, dass man in der Folge die Söhne in Obhut nehmen könnte und hielten daher Legenden aufrecht."

Mädchen wurde im abgedunkelten Zimmer gehalten

Als Einsatzkräfte später das Zimmer des Mädchens durchsuchten, stellten sie fest, dass Fenster und Rollos nicht geöffnet worden waren. "Die Kammer geht davon aus, dass sie ihre Tage mit geschlossenem Rollo und Fenster verbracht hat", so Kretzschmar. Aus Befragungen verschiedener Zeugen wusste man über das Kind: "Sie wurde überwiegend im Zimmer belassen und im Bett gehalten. Sie war von Bewegungsmöglichkeiten und der Teilnahme am Spracherwerb ausgeschlossen." Das Mädchen, bei dem im August 2020 zahlreiche Entwicklungsverzögerungen festgestellt wurden, sei zunehmend hilfsbedürftig – und dadurch den Angeklagten zunehmend "anstrengend" geworden.

Aus Bewegungsmangel und Rückbildung der Muskeln dürften zudem körperliche Schmerzen resultiert sein. Die Richter sehen daher auch das Mordmerkmal von grausamer Qual als gegeben.

Sie gehen davon aus, dass das Mädchen ihrer Mutter in dem Moment lästig wurde, als mit der Geburt des jüngeren Bruders ein gewolltes, eheliches Kind in das Leben der kleinen Familie trat, durch welches die junge Frau sich aufgewertet fühlte.

Verwendete Quellen
  • Beobachtungen im Gerichtssaal
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