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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Wolfgang Niedecken wird 70 "Bin beruhigt, dass die Südstadt doch nicht schick geworden ist"
Am 30. März wurde der Musiker, Autor und Künstler Wolfgang Niedecken 70 Jahre alt. Zum Jubiläum hat t-online mit ihm über seine Heimatstadt Köln, seine Idole und die Lehren seines Lebens gesprochen.
Er gehört genauso zum Stadtinventar von Köln wie an anderer Stelle der Dom, der Rhein und das Müngersdorfer Stadion. Anlässlich seines 70. Geburtstags hat unser Autor mit dem berühmten "BAP"-Kölschrocker ("Verdamp lang her") Wolfgang Niedecken gesprochen: über Corona, das veränderte Kölner Stadtbild und seinen Schlaganfall vor zehn Jahren.
t-online: Ihr Kollege, der Kölner Rockmusiker Hans-Jürgen Zeltinger, ist vor zwei Jahren 70 Jahre alt geworden. Haben Sie sich schon Tipps geholt, worauf Sie sich im neuen Jahrzehnt einstellen müssen?
Wolfgang Niedecken: (lacht) Nein – noch nicht! Komischerweise leben wir in der gleichen Stadt, aber sehen uns viel zu selten. Der Jürgen ist ein Stehaufmännchen und Überlebenskünstler. Es ist echt bewundernswert, wie der sich immer durchschlängelt. Aber das war schon immer so. Guter Mann, der Jürgen!
Wir leben nun gut ein Jahr mit den Auswirkungen von Corona. Das kulturelle Leben liegt brach. – Wie geht es Ihnen persönlich ohne Theater, Kino und Konzerte?
Es fällt mir nicht leicht – aber es gibt ganz andere Probleme, die derzeit viel wichtiger sind. Wenn ich mich in eine Kleinfamilie hineinversetze, die auf engstem Raume lebt und zwei Kinder hat, brennt es dort viel mehr. Kindergärten und Schulbesuche sind nur eingeschränkt möglich, dazu muss der Vater im Homeoffice arbeiten und die Mutter wird streckenweise überfordert sein. Das sind die eigentlichen Probleme. Was meinen Beruf betrifft, werden wir mit Sicherheit die Letzten sein, die wieder arbeiten dürfen.
Mir tun hierbei vor allem die Jungs und Mädels leid, die für uns arbeiten, als dass ich mir selbst leidtue. Unsere Crews leiden sehr stark an diesem "Berufsverbot" – außer sie besorgen sich irgendeinen anderen Job. Und viele suchen sich ja gerade notgedrungen neue Betätigungsfelder. Wenn wir dann endlich mal wieder auf Tour gehen können, kann es noch hart werden. Denn dann werden viele Bands gleichzeitig am Start sein und das Gerangel um die Crews und Tontechniker wird groß werden.
Anderes Thema: Sie haben immer in Köln gelebt. Wenn Sie heute durch die Südstadt flanieren, erkennen Sie da noch Ihre alte Heimat wieder? Oder hat die Gentrifizierung alles auf den Kopf gestellt?
Wir haben 1981 für unser Album "Für Usszeschnigge!" den Song "Südstadt, verzäll nix" aufgenommen – und dieses Lied behandelte ja das Thema Gentrifizierung. Ich bin sehr beruhigt, dass die Kölner Südstadt doch nicht schick geworden ist. Wenn man mal über die Severinstraße geht, sieht man ganz viele "einfache" Menschen, die im Viertel leben. Und als Nicht-Schickeria-Mensch kann man dort immer noch wunderbar leben. Das gefällt mir sehr gut. Allerdings sind die Mieten in einem Maße hochgegangen, dass es sozial nicht sehr verträglich ist.
Ein großer Einschnitt war der Bau der U-Bahn vor vielen Jahren, da wurde alles umgepflügt. Viele kleine Geschäfte sind dabei auf der Strecke geblieben. Aber es ist auch klar: Es ist heute nicht mehr die Südstadt, die ich in meiner Kindheit kennengelernt habe. Wie auch? Das war damals eine Art Bullerbü – ein niedliches Dorf zum Anfassen, wo quasi jeder jeden kannte.
Ihr Vater Josef führte bis 1979 an der Severinstraße 1 ein Lebensmittel- und Feinkostgeschäft. Er kam aus Unkel nach Köln und stammt aus einer alten Winzerfamilie. Haben Sie die Weintrinker-Gene vererbt bekommen?
Auf jeden Fall. Lange Zeit habe ich überhaupt nicht darüber nachgedacht, aber tatsächlich: Mein Lieblingswein ist Riesling! Einen schönen, trockenen, ehrlichen Riesling ziehe ich irgendwelchen schlauen Weinen vor. Und das ist genau das, was meine ganze Verwandtschaft über Generationen angebaut hat: Riesling.
Ihre aktuell erschienene Biografie "Wolfgang Niedecken 70 Jahre" haben Sie Ihren Eltern Josef und Tinny gewidmet. Denken Sie oft an Vater und Mutter?
Mein Vater hat viele Jahre lang körperlich hart gearbeitet – und das Lebensmittelgeschäft, das er führte, war in der Summe schon ziemlicher Raubbau. Er ist mit seinen Kräften an seine Grenzen gekommen und es war allerhöchste Zeit, dass er den Laden irgendwann meinem Halbbruder übergeben hat. Leider hat er von seiner Pensionierung nicht viel gehabt – ein Jahr danach ist er im Alter von 76 Jahren verstorben.
Aber ich denke noch oft an ihn. Er war ein sehr gläubiger Mensch. Wenn zum Beispiel bei uns Lebensmittel weggeschmissen worden sind, dann sagte er immer: "Das hat der Herrgott alles für uns wachsen lassen". Und mit dieser Art von Sprüchen zitiere ich ihn schon mal gerne.
Ihre Mutter hat Ihren Vater um 20 Jahre überlebt – welche Erinnerung haben Sie an die erste Frau Ihres Lebens?
Meine Mutter hat nach dem Tod meines Vaters ihr Leben noch genossen. Sie ist viel gereist und hat viel mit ihren Freundinnen unternommen. Am Ende ist sie sehr krank gewesen und an Alzheimer gestorben. Das war ganz bitter, die letzten zwei Jahre ist sie mehr oder weniger dahingedämmert. Sie hat am Schluss nur noch mich erkannt.
Im vergangenen Jahr sind Sie auch Großvater geworden, welche Rolle spielen Ihre Enkelkinder in Ihrem Leben?
Ich habe vier Kinder und mittlerweile zwei Enkel – das ist schon ein ganz anderes Empfinden, emotional findet das auf einer anderen Ebene statt. Großvater zu sein ist etwas ganz anderes als Vater zu sein. Man sieht seine Kinder in den Enkeln und erinnert sich an diese Zeiten. Und dann stellst du natürlich fest, wie schnell die Zeit vergeht. Meine Innensicht ist ja auch eine andere – ich fühle mich nicht wie 70, sondern irgendwie eher was mit 50 Jahren. Ich habe auch ehrlich gesagt keinen Bock darauf, ständig darüber nachzudenken, wie alt ich nun wirklich bin.
Sie sagten mal an anderer Stelle: "Der Seiltänzer in mir hat selten nach unten geschaut". Ist das anders geworden, als Sie vor zehn Jahren einen Schlaganfall erlitten haben?
Der Schlaganfall war für mich so eine Art Gelbe Karte. Es gibt Fußballspieler, die sagen dann: "Scheiß drauf!" und kriegen ein paar Minuten später Gelb-Rot. Das habe ich nicht gemacht. Ich habe diese Schiedsrichterverwarnung wirklich sehr ernst genommen. Mit dem Seiltänzer-Zitat ist eher was anderes gemeint. Ich habe mal einen Bandscheibenvorfall erlitten, bei dem ich merkte, dass ich ans Ende meiner Kräfte komme – vor allem, weil das sehr schmerzhaft war. Ich habe mich aber nicht operieren, sondern konservativ behandeln lassen.
Dafür muss ich jeden Tag meine Übungen machen. Ich fahre, seit ich 50 wurde, jeden Morgen eine ordentliche Strecke auf dem Heimtrainer – meist so 28 Kilometer. Aber das Wichtige dabei ist ja die Selbsterkenntnis. Ab dem Moment der schmerzhaften Rückenprobleme habe ich mich oft gefragt: "Wie lange kannst du noch als Musiker Konzerte geben"? Ich will ja schließlich nicht auf die Bühne gehen und mich dann bedauern lassen.
Im Moment erleben wir Sie in einer neuen Rolle: als den Autor Wolfgang Niedecken. Für den Kölner Verlag Kiepenheuer & Witsch haben Sie eine sehr subjektive Fan-Biografie über Bob Dylan geschrieben. – Wie kam es dazu?
In der Reihe sind ja schon eine Menge Bücher erschienen, einige davon hatte ich gelesen: Wie der Bochumer Autor Frank Goosen ein Fanbuch über die Beatles verfasst hat – das hat mir gut gefallen. Auch wie Thees Uhlmann, den ich auch privat sehr gerne mag, über die Toten Hosen schrieb und auch das Buch von Tino Hanekamp über Nick Cave war sehr stark. Diese Herangehensweise, dass jemand ganz subjektiv über den Künstler – oder die Band – schreibt, die ihn am meisten beeindruckt hat, das finde ich sehr angenehm.
Denn die zehntausendste Bob-Dylan-Biografie braucht ja eigentlich kein Mensch – sowas gibt es ja alles schon. Ich hatte vor ein paar Jahren für den TV-Sender Arte an der Doku "Auf den Spuren von Bob Dylan" mitgearbeitet und ich habe den roten Faden dieser Reise genommen und dazu erzählt, was ich persönlich mit Bob Dylan erlebt habe. Da konnte ich wunderbar einflechten, was in meinem eigenen Leben mit dem großen Songwriter stattgefunden hat. Das Schreiben hat großen Spaß gemacht und bis jetzt kam noch keine negative Reaktion auf das Buch. Bin mal gespannt, wann der erste Verriss kommt ...
Ursprünglich haben Sie ja Freie Malerei studiert. Finden Sie, dass der Maler Wolfgang Niedecken in Ihrem Leben zu kurz gekommen ist?
Ja, aber das wäre sehr undankbar, wenn ich das jetzt bemängeln würde. Ende der 1970er- und Anfang der 1980er-Jahre war ich mit ein paar Ausstellungen schon ziemlich weit. Ich habe in Berlin in guten Avantgarde-Galerien ausgestellt und vereinzelte Ausstellungen in Hamburg und in Köln gehabt. Später sogar im Lenbachhaus in München. Ich war ziemlich weit. Aber wenn man sich nicht verzetteln will, dann sollte man nur eine Sache richtig machen. Als hätte ich auf der Innenseite meiner Stirn den Sinnspruch tätowiert: "Bloß nicht verzetteln!". Denn ich neige da leider zu und bin dadurch selbst vor mir gewarnt.
Das klingt jetzt wie ein Satz von Ihrem Vater.
Nein, das ist meine eigene Erfahrung. Ich habe in frühen Tagen zusammen mit dem "BAP"-Perkussionisten Manfred "Schmal" Becker gewohnt und gearbeitet. Wir beide haben zusammen gemalt und mehrere Kunstprojekte auf die Beine gestellt. Der Schmal war dabei ein unglaublich akribischer Maler. Von dem habe ich sehr viel gelernt, auch mich nicht zu verzetteln. Er hat mir beigebracht: "Mach lieber weniger – und das dann richtig!"
Lieber Herr Niedecken, wir bedanken uns bei Ihnen für das Gespräch.
Zur Person: Wolfgang Niedecken, 1951 in Köln geboren, studierte von 1970 bis 1975 Freie Malerei und gründete danach die Kölsch-Rock-Band BAP, mit der er 1982 den überregionalen Durchbruch schaffte. Mit seiner Band BAP hat der Musiker, Maler und Autor seit 1979 mehr als sechs Millionen Tonträger verkauft und insgesamt 20 Studio- und 6 Live-Alben veröffentlicht, darunter 11 Nr.1-Titel. Seit dem Jahr 2004 vertritt der vielseitige Allroundkünstler als Botschafter die Dachorganisation “Gemeinsam für Afrika”. Niedecken erhielt zahlreiche Preise, darunter das Bundesverdienstkreuz für sein gesellschaftliches Engagement und den "Echo" für sein Lebenswerk. Niedecken hat vier Kinder und zwei Enkelkinder. Von seinem Kölner Arbeitszimmer aus schaut der überzeugte Kölner Lokalpatriot direkt auf den Rhein.
- Interview mit Wolfgang Niedecken
- Musik-Buch von Niedecken über Bob Dylan