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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Recherche zeigt erstmals auf Besorgniserregende Zahlen zu Rechtsextremen in Deutschland
Hunderte mutmaßliche Rechtsextreme dürfen in Deutschland Waffen besitzen. Auch Hessen ist betroffen. Die geplante Verschärfung des Waffenrechts wird da kaum helfen.
Recherchen des Netzwerks Correctiv zeigen erstmals, wo bundesweit laut Behörden mutmaßliche Rechtsextremisten mit Waffenerlaubnis leben. Bundesweit sind es circa 1.000, 60 davon leben in Hessen. Bewaffnete Rechtsextreme sind eine reale Gefahr für die Gesellschaft – für Politiker, Journalisten, Aktivisten und Menschen mit jüdischer oder muslimischer Abstammung. Das zeigen deutlich die jüngsten Morde in Hessen.
Am 2. Juni 2019 trifft eine Kugel den Kopf von Walter Lübcke. Um 0.30 Uhr findet der jüngere Sohn den Vater leblos auf der Veranda seines Hauses in Wolfhagen. Der hessische Regierungspräsident wird in der Nacht von einem hessischen Rechtsextremisten ermordet.
Am 19. Februar 2020 erschießt ein Rechtsextremist in Hanau neun Menschen mit Migrationshintergrund sowie seine Mutter. Der Attentäter von Hanau und der Lübcke-Mörder hatten, neben ihrer politischen Gesinnung, eines gemeinsam: Sie waren beide Sportschützen. Der Hanau-Attentäter hatte einen Waffenschein. Die Pistolen, die er für seine Morde nutzte, durfte er legal besitzen. Der Mörder von Lübcke besaß seine Waffen illegal.
Rund 1.000 bewaffnete Rechtsextremisten bundesweit
Rund 1.000 Rechtsextremisten in Deutschland dürfen legal eine Waffe besitzen. Diese Personen haben offiziell eine Besitzerlaubnis, weil sie zum Beispiel Jäger oder Sportschützen sind. Wer eine Schusswaffe und Munition erwerben möchte, braucht in Deutschland die sogenannte Waffenbesitzkarte (WBK). Das offene Führen der Waffen geht nur mit dem Großen Waffenschein, den nur Privatpersonen erhalten können, die eine erhebliche Gefahr für ihr Leben nachweisen können.
Hinzu kommen Rechtsextreme, die Waffen illegal lagern. Das zeigen regelmäßig bundesweite Razzien der Polizei. Die Zahlen hat das Recherchenetzwerk Correctiv bei den 16 Innenministerien der Länder abgefragt. Neun Bundesländer teilten diese Zahlen mit – darunter auch Hessen.
Recherche zu Rechtsextremisten
Diese Recherche ist Teil einer Kooperation von t-online mit Correctiv.Lokal, einem Netzwerk für Lokaljournalismus, das datengetriebene und investigative Recherchen gemeinsam mit Lokalredaktionen umsetzt. Correctiv.Lokal ist Teil des gemeinnützigen Recherchezentrums Correctiv, das sich durch Spenden finanziert. Mehr unter correctiv.org/lokal
In Hessen leben 60 mutmaßliche Rechtsextremisten mit Waffenerlaubnis. Mit insgesamt neun steht der Lahn-Dill-Kreis demnach an der Spitze, sieben bewaffnete mutmaßliche Rechtsextreme gibt es der Recherche zufolge im Landkreis Limburg-Weilburg. Allein 25 Personen leben im Rhein-Main-Gebiet und Südhessen. t-online hat Anfragen an alle betroffenen Städte und Landkreise geschickt. Dazu zählen die Städte Frankfurt, Offenbach und Wiesbaden sowie die Landkreise Main-Kinzig, Hochtaunus, Rheingau-Taunus, Offenbach, Groß-Gerau, Bergstraße und Odenwald.
Waffenbehörden wissen oft nichts über bewaffnete Rechtsextreme
Wie gehen die betroffenen Landkreise und Kommunen gegen mutmaßliche Rechtsextremisten vor? "Die Waffenbehörde schöpft in dieser Frage die Möglichkeiten des Waffenrechts und die Hinweise der Sicherheitsbehörden vollständig aus", sagt etwa der Landrat aus dem Main-Kinzig-Kreis, Thorsten Stolz. In seinem Landkreis stehen derzeit vier mutmaßliche Rechtsextremisten auf der Liste, die legal Waffen besitzen dürfen. Stolz sagt, dass man derzeit in vier Fällen tätig sei. Ob es sich um die vier Personen auf der Liste handelt, sagt er hingegen nicht.
Die Waffenbehörden können allerdings nur agieren, wenn sie die nötigen Informationen erhalten. Denn in manchen Fällen erfahren die Mitarbeiter der Waffenbehörden erst gar nicht, wann ein Waffenbesitzer eine rechtsextreme Gesinnung hat. Der Landrat aus dem Kreis Bergstraße, Christian Engelhardt, etwa hat offenbar wenig Kenntnis über die fünf mutmaßlich rechtsextremen Personen in seinem Landkreis. Ihm sei nur eine Person mit "kleinem" Waffenschein bekannt, sagt er. Der "kleine" Waffenschein berechtigt nur zum Tragen von Reizgas- oder Schreckschusspistolen. "Natürlich kann es generell sein, dass Personen vom Verfassungsschutz beobachtet werden und dass dort Erkenntnisse vorliegen, die uns (noch) nicht vorliegen", sagt Engelhardt.
Auch in der Stadt Offenbach weiß man offenbar nichts von einer rechtsextremen Person mit Waffenerlaubnis. Die Stadt habe darüber keine Kenntnis, sagt Sprecher Fabian El-Cheikh. Immerhin: In den vergangenen zwei Jahren wurden in Offenbach zwei Personen entwaffnet. Eine Person wurde der Reichsbürgerbewegung zugeordnet, eine weitere Person stufte der Verfassungsschutz als Rechtsextremisten ein, so El-Cheikh. Dennoch: In der Stadt lebt ein mutmaßlich bewaffneter Rechtsextremist und die Stadt weiß davon nichts.
Das liegt ganz einfach daran, dass die Verfassungsschützer derzeit nicht jeden, den sie als rechtsextrem einstufen, an die Waffenbehörden melden. Denn die Verfassungsschützer unterliegen laut Correctiv strengen gesetzlichen Regeln: Sie dürfen in der Regel keine Erkenntnisse melden, die sie mit verdeckten Maßnahmen wie Abhören oder über Aussagen von V-Leuten gewonnen haben.
Die lokalen Waffenbehörden arbeiteten intensiv mit den hessischen Sicherheitsbehörden zusammen, heißt es dazu vom hessischen Innenministerium auf Anfrage von t-online. Soweit dies rechtlich möglich sei, würden die bei Polizei oder Verfassungsschutz vorliegenden Erkenntnisse genutzt, um Waffenscheine zu versagen oder wieder zu entziehen. Aktuell seien in Hessen gegen 19 Personen Verwaltungsmaßnahmen anhängig, bei denen es um die Versagung oder Entziehung waffenrechtlicher Erlaubnisse gehe.
Innenministerium stößt bei Entwaffnung an juristische Hürden
Bei der Entwaffnung bekannter Rechtsextremer stoße man aber auch immer wieder an juristische Hürden, teilte das Innenministerium weiter mit. Wenn Rechtsextreme etwa nach fünf Jahren nicht mehr auffällig geworden seien, könne man rechtlich gegen diese Personen nicht mehr vorgehen. Allerdings prüft der hessische Verfassungsschutz regelmäßig, ob es neue Erkenntnisse über die betroffenen Personen gebe. Hessen unterstütze eine Schärfung des Waffenrechts.
Diese steht auf der Agenda der Bundesregierung. Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) arbeitet seit Monaten an einer Überarbeitung des Gesetzes. Doch laut Recherchen von Correctiv wird auch die Reform des Gesetzes zentrale Probleme nicht lösen: Denn jenen Rechtsextremisten, die schon Waffenerlaubnisse und damit Waffen haben, können die Waffenbehörden nicht einfach die Erlaubnis entziehen. Sie müssten auch in Zukunft jede einzelne Person prüfen, ob die Waffenerlaubnis verhältnismäßig sei. Denn: Pauschal allen Rechtsextremen die Waffen abzunehmen, lasse das deutsche Grundgesetz nicht zu.
- Eigene Recherche
- correctiv.org: Die bewaffneten Rechtsextremen von nebenan
- Datensätze von Correctiv
- Anfragen an Städte und Landkreise
- Anfrage an das Hessische Innenministerium