Urteil im "NSU 2.0"-Prozess Rechtsanwältin: "Signalwirkung für alle, die Hass und Hetze ausgesetzt sind"
Im Prozess um Nazi-Drohschreiben wurde der Angeklagte für fast sechs Jahre Haft verurteilt. Die Datenabfrage innerhalb der Polizei konnte nicht aufgeklärt werden.
Im neun Monate dauernden "NSU 2.0"-Prozess wurde am Donnerstag das Urteil verkündet: Das Frankfurter Landgericht verurteilte den Angeklagten Alexander M. zu fünf Jahren und zehn Monaten Gefängnis.
"Von diesem Urteil geht eine Signalwirkung für alle diejenigen Menschen in diesem Land aus, die Hass und Hetze ausgesetzt sind", sagte die Frankfurter Rechtsanwältin Seda Başay-Yıldız zu t-online, während sie noch im Gericht die Urteilsbegründung verfolgte. Başay-Yıldız ist eine der Betroffenen der rechtsextremen Drohschreiben des "NSU 2.0".
"Die zentrale Frage, wie der Angeklagte an die im 1. Polizeirevier von Polizeibeamten abgerufenen Daten gekommen ist, unter anderem von meiner kleinen Tochter und meiner neuen Adresse, ist jedoch nach wie vor offen", sagte Başay-Yıldız weiter. "Von daher gehen wir nicht, wie das Gericht, von einer Einzeltäterschaft aus." Das Gericht habe deutlich gesagt, dass die Frage der Datenabfrage innerhalb der Polizei und die Hintergründe dazu nicht aufgeklärt werden konnten.
Auch die Linken-Vorsitzende Janine Wissler erhielt Drohschreiben. Ihre Daten wurden von einem Rechner aus dem 3. Wiesbadener Polizeirevier abgerufen. "Ich halte die Theorie des Einzeltäters nicht für plausibel", sagte sie zu t-online. Wissler beschäftigt sich schon seit vielen Jahren mit rechten Strukturen. In der Regel handelten die Täter nicht allein. Und sie fragt sich: "Wie soll er das denn allein gemacht haben? Ich kann mir nicht vorstellen, dass er bei fünf Polizeirevieren angerufen und nach persönlichen Daten gefragt hat. Insbesondere bei der amtlich gesperrten Adresse von Başay-Yıldız", sagte sie.
Alexander M. ist nach Entscheidung des Gerichts der alleinige Verfasser von rund 80 mit "NSU 2.0" unterzeichneten Drohschreiben unter anderem gegen Politikerinnen, Rechtsanwältinnen und -anwälte in mehreren Bundesländern. Die Schreiben enthielten massive verbale Beleidigungen wie "Volksschädling" oder Schimpfwörter gegen Menschen mit Migrationshintergrund. Der Name "NSU 2.0" spielt auf die rechtsextreme Terrorzelle "Nationalsozialistischer Untergrund" und die von ihr verübten Morde an.
Betroffene fordern weitere Aufklärung
Konkret hatte die Anklage dem 53-Jährigen neben 67 Fällen von Beleidigung versuchte Nötigung, Bedrohung, Volksverhetzung, das Verbreiten von Kennzeichen verfassungswidriger Organisationen, Verunglimpfung des Andenkens Verstorbener, Störung des öffentlichen Friedens durch Androhung von Straftaten und öffentliche Aufforderung zu Straftaten vorgeworfen.
Die Staatsanwaltschaft hatte zunächst eine Haftstrafe von sieben Jahren und sechs Monaten gefordert. Der Angeklagte hatte die Vorwürfe abgestritten. Er sei lediglich Mitglied einer Chatgruppe im Darknet gewesen, die Schreiben habe er allerdings nie verfasst. Seine Verteidiger plädierten nicht auf einen Freispruch.
Auch weitere Betroffene sehen den Fall nicht als vollständig aufgeklärt: Nach umfangreicher Beweisaufnahme sei die Rolle von mindestens einem Polizeibeamten und einer Polizeibeamtin des 1. Frankfurter Polizeireviers ungeklärt, wie die Betroffenen in einer gemeinsamen Erklärung am Dienstag mitteilten. Deshalb hatte die Nebenklage einen Freispruch für den nun verurteilten M. in Bezug auf das erste Drohschreiben beantragt.
Die Ermittlungen ergaben, dass vertrauliche Daten der Betroffenen Seda Başay-Yıldız und ihrer Tochter nur wenige Minuten vor dem Verschicken des ersten Droh-Faxes von einem Computer der Polizeiwache im Frankfurter Bahnhofsviertel abgerufen worden waren. Die Anwältin kämpft gemeinsam mit anderen Betroffenen wie Martina Renner oder Janine Wissler seitdem gegen die Einzeltätertheorie. Der Landesvorsitzende der Polizeigewerkschaft, Jens Mohrherr, hatte die Vorwürfe am Mittwoch von sich gewiesen: Es gäbe keine Netzwerke innerhalb der hessischen Polizei.
Der Verdacht richtete sich lange Zeit gegen die Polizei. Ein ehemaliger Polizist aus Bayern und seine Ehefrau standen zunächst im Fokus der Ermittlungen. Der Verdacht gegen sie konnte allerdings nicht erhärtet werden. Die Daten soll sich M. telefonisch bei der Polizei erschlichen haben. Vor Gericht hatte ein Ermittler des Landeskriminalamts ausgesagt, dass im Fall mehrerer Polizisten nicht mehr zweifelsfrei rekonstruiert werden könne, wo sie sich zur Zeit der Datenabfrage aufhielten. Zudem seien zahlreiche volksverhetzende und rechtsextreme Bilder und Fotos auf dem Handy eines Beamten gefunden worden.
Alexander M. forderte Freispruch
M. ist den Ermittlern zufolge vorbestraft und wurde zuletzt 2014 verurteilt. Bereits im Jahr 1992 hatte er sich als Kriminalbeamter ausgegeben und wurde in diesem Zusammenhang wegen Amtsanmaßung verurteilt. Auf seine Spur kamen die Ermittler nach eigenen Angaben durch akribische Ermittlungsarbeit vor allem in Internetblogs und -foren. Auf der Plattform "PI-News" stieß die Polizei auf einen Nutzer, dessen Beiträge in Form und Duktus Ähnlichkeiten mit den "NSU 2.0"-Drohschreiben aufwiesen.
Während des Prozesses, der im Februar 2022 begann, fiel M. vor allem durch aufbrausendes Verhalten auf. So bedrohte und beleidigte er aussagende Zeugen. Die Vorwürfe bestritt er. Er sei Mitglied einer Chatgruppe im Darknet gewesen, aus der heraus Straftaten begangen worden seien – er selbst habe sich jedoch nicht daran beteiligt. Während die Staatsanwaltschaft die Vorwürfe bestätigt sah und in ihrem Plädoyer siebeneinhalb Jahre Haft forderte, plädierte M. Ende Oktober in weiten Teilen für sich selbst und forderte einen Freispruch.
- Mit Informationen der Nachrichtenagentur afp
- Eigene Recherche
- Anfrage an Seda Başay-Yıldız