Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
Was Meinungen von Nachrichten unterscheidet.Frankfurter Bahnhofsviertel Drogenforscher: "Die Situation für Abhängige hat sich verschärft"
Viele sehen die Schuld an der aktuell brisanten Situation im Bahnhofsviertel in einer gescheiterten Drogenpolitik. Unser Gastautor ist anderer Meinung.
Der Soziologe und Drogenforscher Bernd Werse beschäftigt sich seit über 20 Jahren mit unterschiedlichen Aspekten des Umgangs mit Drogen und ist Mitgründer des an der Frankfurter Goethe-Universität angesiedelten Centre for Drug Research. Für Werse liegen die Hauptgründe für den Zustand des Viertels und Drogenszene woanders. Ein Gastkommentar.
Seit einiger Zeit häufen sich wieder Berichte über die Zustände im Frankfurter Bahnhofsviertel – wie bereits in den letzten mehr als 20 Jahren zuvor auch, seitdem sich die "harte" Drogenszene in den 1980er Jahren endgültig dort verortet hat. Klagen über das Bahnhofsviertel sind also nichts wirklich Neues. Allerdings ist nicht von der Hand zu weisen, dass sich die Situation tatsächlich verschärft hat: So war der Anteil faktisch Obdachloser innerhalb der Szene zuletzt auf einen Höchststand gestiegen.
Gentrifizierung des Viertels sorgt für verschärfte Lage
Häufig ist die Rede davon, dass die Lage im Bahnhofsviertel sich seit der Pandemie verschlimmert habe. Fakt ist: Zu Beginn der Pandemie stiegen unter den Konsumenten Ängste und Ungewissheiten, wie schlimm die Pandemie sie treffen werde. Zudem stiegen die Probleme, an Geld zu kommen, um den eigenen Drogenkonsum zu finanzieren. Damit zusammenhängend stiegen auch Stress und Aggressionen innerhalb der Szene an. Neben den Auswirkungen der Corona-Krise gibt es aber auch langfristige Gründe für die Verschärfung der Lage, allen voran der sich seit Langem vollziehende Wandel des Bahnhofsviertels.
Teure Wohnungen und Gewerbeflächen entstanden, die teils mit privaten Sicherheitsdiensten bewacht werden. Die Kaiserstraße ist vollends zur Gastronomie- und Gewerbemeile, die Münchener Straße zur hippen Location geworden – Angehörige der Drogenszene tauchen hier höchstens noch zum Schnorren auf. Auch rund um das Bahnhofsviertel sind Flächen verschwunden, die früher zum Aufenthalt zur Verfügung standen.
Der Frankfurter Weg
Ende der 1980er Jahre hielten sich in Frankfurt auf der Taunusanlage mehr als 1.000 Konsumierende auf. Der traurige Höhepunkt waren über 100 Drogentote im Jahr. Die Stadt reagierte und setzte ab den 1990er Jahre auf einen pragmatischen und akzeptierenden drogenpolitischen Ansatz. Frankfurt führte unter anderem Konsumräume ein, um die Abhängigen von der Straße in die Räume zu bringen. Die Drogenhilfe setzt hierbei auf ein Vier-Säulen-Modell: Durch "Prävention" soll der Einstieg in den Drogenkonsum vermieden oder zumindest verzögert werden. "Beratung und Therapie" dienen dazu, den Ausstieg zu erleichtern. Gesundheitliche Risiken sollen durch die "Überlebenshilfe" vermindert werden. Die "Repression" gilt vor allem den Dealern, um den Drogenhandel zu bekämpfen. Durch den Frankfurter Weg ist seit 1991 die Anzahl der Drogentoten konstant auf 25 pro Jahr gesunken.
Stück für Stück wurde also öffentlicher Raum abgebaut, der zuvor als gelegentlicher Aufenthaltsort für die Szene oder auch für Obdachlose diente. Aktuell hat sich diese Situation noch mal durch die weitgehende Sperrung der B-Ebene des Hauptbahnhofs verschärft. Dadurch ist nur noch ein kleines Areal zwischen Taunus- und Niddastraße übriggeblieben, in dem sich ein Großteil des Szenelebens abspielt.
Seit Beginn der Pandemie kam bis zuletzt erschwerend hinzu, dass der Aufenthalt in den Einrichtungen der Drogenhilfe zunächst gar nicht, später nur eingeschränkt möglich war. Öffentliche Toiletten gibt es keine; in der Gastronomie werden Drogenkonsumierende nicht gerne gesehen. Ob neue Höchststände beim Crackkonsum als Folge oder ursprünglicher Faktor der verschärften Lage anzusehen sind, ist unklar – jedenfalls passt auch diese Beobachtung ins Bild einer verdichteten Szene mit erhöhtem Stressniveau.
Forscher Werse: "Der Frankfurter Weg ist nicht gescheitert"
Die Enge des Bahnhofsviertels im Zusammenspiel mit der zentralen Lage der Stadt Frankfurt als Anziehungspunkt hat seit jeher zu einer speziellen Situation der Frankfurter Szene beigetragen. Dadurch unterscheidet sich diese strukturell von den meisten anderen urbanen Drogenszenen Deutschlands. Die Entwicklungen der letzten Monate und Jahre haben bestehende Probleme aber nochmals wie in einem Brennglas verschärft. Daraus nun zu schließen, dass der "Frankfurter Weg" gescheitert sei und eine repressivere Ordnungspolitik das Mittel der Wahl wäre, wie manche Stimmen fordern, ist allerdings der völlig falsche Ansatz.
So schafft man es zwar in Städten wie München mit einer solchen Politik, Drogenkonsumierende stärker aus dem Stadtbild zu verdrängen, allerdings um den Preis einer deutlich höheren Zahl an Drogentoten. Zudem ist die Polizei dort stärker mit der Verfolgung von Drogenbesitz eingebunden. Diese Praxis sorgt für mehr Stress unter den Betroffenen und hilft vor allem den Dealern dabei, die Preise hochzuhalten. Die Szene verschwindet dadurch aber keinesfalls.
Natürlich macht ein solcher Vergleich die Situation in Frankfurt nicht besser. Sie hat aber vielfältige Ursachen und es gibt keine einfachen Lösungen. So sind die Gründe des Drogenkonsums der Menschen sehr komplex. Dabei gilt es anzuerkennen, dass viele dieser Menschen wohl nie mehr einen "normalen" Lebensalltag führen können. Aber auch sie haben ein Recht darauf, den öffentlichen Raum zu nutzen, was ihnen seit geraumer Zeit immer schwerer gemacht wird.
Zur Entspannung der Lage würde mit Sicherheit beitragen, den Besitz geringer Drogenmengen zu legalisieren und den Zugang zu Substitutionsmitteln wie Methadon sowie zu Drogen deutlich zu vereinfachen. So würde man den Druck von Konsumierenden nehmen, an Drogen zu kommen. Hierfür wäre allerdings die Bundespolitik zuständig; aktuell ist ein solcher Schritt leider nicht abzusehen. Wichtig für die Lage vor Ort wäre es aber vor allem, anstatt über die Szene zu reden, Meinungen aus der Szene selbst einzuholen. Denn Drogenkonsumierende können selbst am besten benennen, welche konkreten Probleme im Kleinen bearbeitet werden sollten, um im Großen zu einer nachhaltigen Strategie für das gesamte Umfeld beizutragen.
Vielen Dank an Luise Klaus und Jennifer Martens für wichtige Anregungen.
- Eigene Darstellung von Bernd Werse
- faz.net: Die Stadt und der Drogentourismus