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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Kein Geld mehr für Spaghetti Armut durch Inflation: "Wo soll ich jetzt noch sparen?"
Sprit, Lebensmittel, Heizkosten – die Preise steigen. Trotz Absprung aus Hartz-IV kratzt Birgit Guse an der Armutsgrenze. Aus Verzweiflung lässt sie schon Mahlzeiten ausfallen.
Birgit Guse (Name geändert) hat nicht geglaubt, dass sie einmal wieder in diese Situation geraten würde: Spargedanken bei jedem Einkauf, schlaflose Nächte wegen anstehender Rechnungen und Aufschieben von Anschaffungen.
Die ehemalige Sozialhilfeempfängerin hatte das eigentlich hinter sich gelassen, als sie einen neuen Job fand. Die 62-Jährige ist alleinstehend, lebt in Gelsenkirchen und arbeitet im sozialen Bereich. Mit einem Einkommen von 1.200 Euro netto wird es für sie jetzt an vielen Stellen wieder knapp. Einen Mann oder Kinder als Unterstützung bei der Altersvorsorge hat sie nicht. Ersparnisse für die Rente? Keine.
Immer höhere Inflationsrate
"Die Inflation merke ich im Geldbeutel deutlich", sagt Guse. So deutlich, dass sie immer näher an die Armutsgrenze rutscht. Im Mai war die Inflationsrate auf 8,1 Prozent gestiegen, Nahrungsmittel haben sich innerhalb eines Jahres um mehr als 11 Prozent verteuert. Das lag vor allem an hohen Energiepreisen.
Für Guse bedeutet das: Sie ist eine von 16 Prozent. Dem Anteil der Deutschen, der laut einer Umfrage bereits jetzt auf reguläre Mahlzeiten verzichtet. Mit Guse wird die sonst so abstrakt scheinende Zahl greifbar. Mal lässt sie das Frühstück ausfallen, mal ihr Abendbrot.
"Für mich unerträglich"
Und generell: "Ich koche immer für zwei Tage und kaufe viele Artikel, die kurz vor dem Ablaufdatum stehen", berichtet sie. Ihr Lieblingsessen, Spaghetti Bolognese, gab es schon länger nicht mehr. Der letzte Urlaub liegt Jahre zurück. Viele Anschaffungen hat sie aufgeschoben.
An Träume wie einen Konzertbesuch bei den Rolling Stones oder eine Reise nach Irland ist gar nicht zu denken. "Stattdessen habe ich Albträume, in denen es darum geht, dass ich wieder vom Sozialamt leben muss", sagt Guse. Dabei hatte sie sich genau dafür immer geschämt. "Das war für mich unerträglich", erinnert sie sich.
"Wo soll ich jetzt noch sparen?"
An die Kommentare, die sie teilweise bekam, denkt sie noch heute schmerzlich zurück. "Geh doch einfach malochen!", habe sie häufiger gehört. Aber eine Bewerbung nach der nächsten wurde abgelehnt. "Vielleicht, weil ich schon über 40 Jahre alt war", mutmaßt sie.
Das erlösende Gefühl, endlich einen Beruf gefunden zu haben, wird derzeit zunichte gemacht. Tomatensuppe oder Linsen, Spätzle, Angebote und Aufläufe stehen derzeit bei Guse wieder häufiger auf dem Speiseplan. Viel Spielraum zum Sparen bleibt der Gelsenkirchenerin allerdings nicht mehr: "Spaghetti kosten mittlerweile mehr als das Doppelte", sagt Guse.
Nur das Nötigste einkaufen, Rabattcoupons nutzen und Bio-Lebensmittel nur aus der Sonderkiste mitnehmen kennt Guse längst. "Ich war jahrelang Sozialleistungsempfängerin und musste jeden Euro umdrehen", erinnert sie sich. Sie erwarte von der Politik mehr Gerechtigkeit und die Wahrung der Menschenwürde. "Wo soll ich jetzt noch sparen?", fragt sie. Eine berechtigte Frage für Personen, bei denen Sparen keine Option, sondern ein Muss ist.
Nicht nur, weil nach Abzug ihrer Fixkosten wie Miete für die 60-Quadratmeter-Wohnung, Versicherungen, Telefonkosten oder Kleidung nur noch ein niedriger dreistelliger Betrag auf dem Konto stehen bleibt. Sondern vor allem, weil Guse schon vor Zeiten der hohen Inflation sparen musste.
Angst vor Nebenkostenabrechnung
Ihr Job, den sie in einer Nachbarstadt gefunden hat, gibt ihr ein Stück der Würde zurück, die sie als Hartz-IV-Empfängerin nicht mehr fühlte. Ruhig schlafen lässt ein Einkommen von 1.200 Euro sie trotzdem nicht. "Mein Auto hat einen Schaden an der Achse, das wird mindestens 500 Euro kosten", fürchtet sie.
Wenn zeitgleich noch die Waschmaschine kaputtgehen würde, hohe Tierarztkosten für ihren Hund oder ihre Katze anfielen oder eine hohe Nachzahlung für Heizkosten ins Haus trudeln würde – Guse wäre "ruiniert".
Urlaube müssen verschoben werden
Dabei sah es kurz nach dem Absprung aus Hartz-IV so aus, als würde alles anders werden. Als wäre der Coffee to go, das neue Sofa oder der Urlaub zumindest im Sauerland doch mal drin. "Ich habe mir gesagt, wenn ich arbeite, habe ich endlich auch Urlaub verdient. Angezahlt war die Reise schon", sagt Guse. Finanzielle Engpässe machten ein Verschieben erneut notwendig.
Obwohl sie nun keine Sozialleistungsempfängerin mehr ist, spürt Guse durch die Inflation keinen großen Unterschied zur Situation zuvor. Lebensmittel von der Tafel zu beziehen, dazu ist sie inzwischen nicht mehr berechtigt. Wer als Single ein Netto-Einkommen von unter 1.074 Euro hat, gilt in Deutschland als arm. Ohnehin sind aber viele Tafeln überlaufen, nehmen keine Neukunden und -kundinnen mehr auf.
"Ich finde, dass Arbeiten sich doch lohnen muss", sagt Guse. Wenn sie heute noch einmal von vorn starten könnte, hätte sie Lehramt studiert, sagt sie. Dann wäre die Fahrt zur Tankstelle vielleicht entspannter geworden, auch in diesen Tagen.
"Ich zahle für meinen VW Beatle für eine Tankfüllung fast die Hälfte mehr! 80 anstatt 60 Euro", sagt Guse. Verzichten kann sie aber nicht darauf – zwei Stunden würde die Fahrt mit öffentlichen Verkehrsmitteln zu ihrer Arbeitsstelle dauern. "Das 9-Euro-Ticket habe ich mir aber geholt, das finde ich eine gute Sache", sagt die 62-Jährige.
Guse ist verzweifelt
Entlastung bedeutet die auf drei Monate begrenzte Maßnahme der Bundesregierung für Guse aber nicht wirklich, hat eher Freizeitwert. "Ich weiß nicht, wo ich noch sparen soll, wenn die Preise weiter so steigen", sagt sie verzweifelt. Um Obst selbst anzupflanzen, fehlt ihr der Garten, Restaurantbesuche hat sie schon gestrichen und Kleidung kauft sie meist sowieso secondhand.
Trotzdem ist Guse genügsam. Träumt gar nicht mehr von einem großen Wurf – Bretagne-Urlaub im Hotel, Netflix-Abo und Spaghetti Bolognese jeden Tag. Hauptsache, sie muss nicht an ihren Tieren sparen. "Da spare ich eher bei mir", sagt sie.
- Eigene Recherchen