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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Prozess zur Explosion in Ratingen "Im Rettungswagen liegt die Polizistin, aber die stirbt gerade"
Nach der Explosion in einem Ratinger Hochhaus mit neun Schwerverletzten begann in Düsseldorf der Prozess gegen einen 57-Jährigen. Während er schwieg, schilderten Zeugen die Ereignisse.
Der Moment, der das Leben von neun Polizisten, Feuerwehrleuten und Rettungsdienstmitarbeitern für immer veränderte, ist in Saal E116 auf der Großbildleinwand zu sehen. Die Videoaufnahmen zeigen, wie eine Polizistin literweise mit Benzin übergossen wird, wie ihr Kollege mit gezogener Waffe "Der zündet sich an“ ruft. Dann wird das Bild erst ganz hell und danach tiefschwarz.
Es ist der Moment, dessentwegen ein Mann aus Ratingen an diesem Freitagmorgen vor dem Düsseldorfer Landgericht angeklagt wird. Er soll am 11. Mai dieses Jahres laut Staatsanwaltschaft versucht haben, neun Menschen auf heimtückische Art zu töten. Denn nicht sich selbst, sondern diese hatte er angezündet. Acht von ihnen würden absehbar bleibende Schäden zurückbehalten, heißt es in der Anklageschrift. Insgesamt waren bei der verheerenden Explosion in einem Ratinger Hochhaus 35 Personen verletzt worden. Manche direkt durch den Feuerball, den der Angeklagte ausgelöst haben soll, viele weitere wegen Rauchvergiftungen.
Der Angeklagte sieht verwahrlost aus
Während die Anklage verlesen wird, sitzt der Angeklagte schier teilnahmslos auf seinem Platz. Er trägt einen blauen Pullover, hat eine Halbglatze. Die verbliebenen Kopfhaare sehen ebenso wie sein Bart wild und ungekämmt aus. Der 57-Jährige sieht verwahrlost aus. Seine Augen sind meist starr nach vorne gerichtet. Als die Richter den Saal betreten, bleibt er als Einziger sitzen. Es wirkt so, als habe all das hier nichts mit ihm zu tun. Sein Anwalt sagt, dass sich sein Mandant vorerst nicht zu den Vorwürfen äußern möchte. Was sich während des Einsatzes abspielte, schilderten am Freitag andere.
Zunächst der Polizeibeamte, dessen Bodycam-Aufnahmen später auch im Gericht abgespielt werden. Er kam besser davon als seine auf dem Video zu sehende Kollegin, deren Körperoberfläche zu 80 Prozent verbrannt wurde. Doch auch er hat bis heute mit den Folgen zu kämpfen. Nach wochenlangem Koma habe er alles wieder lernen müssen. Sprechen, Sitzen, Laufen. Heute sind es vor allem die psychischen Folgen, die ihm zu schaffen machen. Auf seinem Gesicht sind Spuren der Verbrennungen zu sehen.
Der 30-Jährige schildert, wie ein eigentlicher Routineeinsatz plötzlich eskalierte. Die Polizisten waren vom Eigentümer des Hochhauses alarmiert worden. Der Briefkasten an der Wohnung des Angeklagten quoll über, weder von ihm noch seiner Mutter habe es Lebenszeichen gegeben. Als die Tür von der gleichermaßen alarmierten Feuerwehr aufgebrochen worden war, fiel den Einsatzkräften erst der starke Verwesungsgeruch auf, dann die Wasserkisten, die zur Barrikade hinter der Tür aufgestellt waren. "Ich dachte an einen erweiterten Suizid", sagt der Polizeibeamte. Erst als seine Kollegin und er schon in der Wohnung waren, hörte er erstmals Geräusche, sah den Angeklagten mit einem angezündeten Stück Stoff. Der Rest ist auf den Aufnahmen zu sehen.
Feuerwehrchef sieht schreckliche Szenen
Nach der Explosion war der Beamte zunächst noch bei Bewusstsein. Er half seiner brennenden Kollegin, das Haus zu verlassen, dabei, sie zu löschen, und bemerkte, dass er seine Waffe verloren hatte. "Irgendwann kommt dann der Schmerz", sagt er am Freitag im Gerichtssaal. Er bemerkte seine eigenen Verbrennungen. Später, als ihn bereits Sanitäter versorgten, wurde er ohnmächtig und wachte wochenlang nicht mehr auf. "Ich habe mir selber versprochen, nie aus Nachlässigkeit in so eine Situation zu kommen", sagt er. Aber was im Mai mit ihnen passierte, sei einfach nicht vorhersehbar gewesen.
Der zweite Zeuge, der zum Prozessauftakt vernommen wird, kam erst später an den Tatort. Es ist der Ratinger Feuerwehrchef. Zufällig hörte er auf der Dienststelle die eingehenden Hilferufe über Funk und war dann einer der ersten am Einsatzort. Was er dort sah, ist grausam. Auf dem Boden lag ein Mann, komplett verbrannt. Nur an seinen Stiefeln erkannte er, dass es einer seiner Kollegen sein musste. Daneben rief eine Sanitäterin: "Hier im Rettungswagen liegt die Polizistin, aber die stirbt gerade." Nach und nach wurden für alle Verletzten Klinikplätze organisiert. Unter Polizeischutz wurde der Brand gelöscht, die verlorene Waffe und die bereits Wochen zuvor eines natürlichen Todes gestorbene Mutter des Angeklagten gefunden.
In der Pause lächelt der Angeklagte
Alle Verletzten haben die Explosion überlebt. Manchen werden die Folgen jedoch immer anzusehen bleiben. Warum diese schreckliche Tat geschehen musste, wird wohl zunächst unklar bleiben. Der Angeklagte wurde mit einem Haftbefehl wegen Körperverletzung gesucht. Später kam heraus, dass er wohl auch ein überzeugter Corona-Leugner war. Aber reicht das, um Polizisten und Feuerwehrleute in einen Hinterhalt zu locken und anzuzünden?
Neun Verhandlungstage sind bis zum 11. Januar angesetzt und sollen Motiv und Schuld des 57-Jährigen klären. Der Ernst der Angelegenheit ist diesem auch im weiteren Prozessverlauf nicht anzumerken. Während der Zeugenaussagen und des Abspielens vom Einsatzvideo sitzt er weiter regungslos und stumm auf seinem Platz. Nur in den Pausen reagiert er manchmal auf das, was sein Anwalt ihm sagt. Einmal ist sogar ein leichtes Lächeln auf seinem Gesicht zu sehen.
- Reporter vor Ort