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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Straftaten-Rekord in Sachsen "Rechtsextreme nutzen die Montagsdemos für ein Comeback"
In Sachsen erreichen politische Straftaten einen neuen Höchststand: Nur ließen sich die Täter größtenteils nicht dem üblichen Rechts-Links-Schema zuordnen.
Anfang 2022 wirkte es noch so, als würden sich die montäglichen Proteste in Sachsen verlaufen: Die Corona-Maßnahmen wurden gelockert, die Proteste kleiner. Doch mit dem Überfall auf die Ukraine änderte sich das schlagartig. Und so verzeichnet die neueste Kriminalstatistik in Sachsen 6.327 politisch motivierte Straftaten – so viele wie noch nie.
2021 war es noch ein Drittel weniger, teilte das Innenministerium am Dienstag mit: Verantwortlich für den Zuwachs seien insbesondere Delikte im Zusammenhang mit der Corona-Pandemie, dem russischen Angriffskrieg und der Energiekrise: "Die überwiegende Zahl der Fälle steht im Zusammenhang mit entsprechenden Protesten und Versammlungen und den damit einhergehenden Verstößen gegen das Versammlungsgesetz", ordnet es ein Sprecher des Innenministeriums ein – die Aufklärungsquote beträgt gerade einmal 31 Prozent.
Nur ließen sich die Tatverdächtigen größtenteils nicht dem üblichen Rechts-Links-Schema zuzuordnen. Für Sachsens Innenminister Armin Schuster (CDU) sei dies ein Zeichen dafür, dass der Protest in weiten Teilen aus der "bürgerlichen Mitte" gekommen sei, berichtet die "Sächsische Zeitung" von der Pressekonferenz am Dienstag.
"Protestmilieu, das wir von Pegida kennen"
Janek Treiber, wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter an der TU Dresden, der die Montagsproteste von Anfang beobachtet, widerspricht dem Innenminister: "Im Wesentlichen handelt es sich bei den Montagsprotesten um ein Milieu, das wir bereits von Pegida kennen: Durch die Querdenken-Proteste ist das immer mehr miteinander verschwommen", erklärt Treiber t-online. "Prinzipiell sind das alles Protestformen, die insoweit ein ideologisches Fundament teilen, dass sie für die gleichen Gruppen anschlussfähig bleiben."
Janek Treiber
ist seit 2021 wissenschaftlicher Mitarbeiter und Lehrbeauftragter an der TU Dresden: Seine Erkenntnisse beruhen auf eigenen Beobachtungen der Proteste in Dresden, Freiberg und Chemnitz und Befragungen aus der Kollegenschaft. 2022 veröffentlichte er im "Forschungsjournal Soziale Bewegungen" einen Artikel über die zunehmende Radikalisierung innerhalb des Corona-Protests.
Natürlich würden an Montagsdemonstrationen auch Menschen teilnehmen, die sich einem altlinken Spektrum zugehörig fühlen, führt Treiber weiter aus. Moderne linke Muster wie eine gewisse LGBTQ- und Migrationsfreundlichkeit würden allerdings konsequent abgelehnt: "Stattdessen sehen wir nationalistische Tendenzen: Das heißt nicht unbedingt, dass es Neonazis sind, dennoch wird der Nationalstaat in den Vordergrund gerückt."
Während bei Corona-Protesten in Westdeutschland teilweise Teilnehmer aus esoterischen Kreisen vertreten sind, war diese Strömung auf sächsischen Straßen weniger verbreitet: "Was die Proteste deutschlandweit eint, sind hingegen prominent vertretene neurechte Gruppierungen wie die 'Identitäre Bewegung' oder die 'Freien Sachsen'."
Hinzu kämen Teilnehmer, die Verschwörungstheorien auf die Straße treiben: "Ein nicht unerheblicher Teil dieser Gruppe sind Mitläufer, also Teilnehmer, die ideologisch nicht so gefestigt sind." Bei den Protesten gegen die Corona-Maßnahmen war das aufgrund der breiten Betroffenheit noch ausgeprägter – sodass teilweise ganze Familien gemeinsam montags spazieren gegangen seien: "An der Grundüberzeugung – der fundamentalen Opposition – hat sich seither allerdings nicht viel geändert."
Sachsen: 110 Versammlungen pro Woche
Laut der Kriminalitätsstatistik haben allerdings auch nicht die Teilnehmenden solcher Demonstrationen, sondern vielmehr die nicht greifbaren Organisatoren die politischen Straftaten steigen lassen: Es wurden nämlich deutlich mehr Verstößen gegen das Versammlungsgesetz verzeichnet.
Innenminister Schuster sagte am Dienstag, in keinem anderen Bundesland müsse sich die Polizei mit einem derart konzentrierten Demonstrationsgeschehen beschäftigen wie in Sachsen. An jedem Montag hätten landesweit 60 bis 110 angemeldete und nicht angemeldete Versammlungen stattgefunden.
Der Wissenschaftler Treiber erklärt, "bei den politisch Verantwortungstragenden macht sich ein Stück weit die Sorge breit, nicht mehr Herr der Lage zu sein". Bei den breit gefächerten Covid-Demonstrationen wüsste die Polizei teilweise gar nicht mehr, wo sie hinfahren sollte: "Mit der Einschätzung, dass es sich um ein diffuses und schwierig zu fassendes politisches Spektrum handelt, übersieht das Innenministerium, wie Rechtsextreme die Montagsdemonstrationen für ein Comeback nutzen", so Treiber weiter: "Wer kennt schon neurechte Vereine? Aber wenn diese Gruppen jeden Montag in Chemnitz oder Dresden ihre Fahnen schwenken können, dann ist das eine gute Möglichkeit für die eigene Publicity."
- Telefonat mit Janek Treiber
- medienservice.sachsen.de: Sächsische Kriminalstatistik 2022
- saechsische.de: Deutlicher Anstieg bei Kinderpornografie in Sachsen