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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ende der Maskenpflicht "Ich fürchte mich vor unhygienischen Kunden"
In Berlin fällt die Maskenpflicht im Supermarkt schon heute weg. Die Freude hält sich in Grenzen: Eine Supermarkt-Mitarbeiterin ekelt sich vor Kunden – und ein Risikopatient will nicht zur Zielscheibe von "Querdenkern" werden.
Am 1. April ist es so weit. Kein Scherz: Berlin kippt als erstes Bundesland die Maskenpflicht. Besiegt ist die Pandemie jedoch noch lange nicht, das zeigen die hohen Infektionszahlen. Deshalb ist einigen Berlinern beim Gedanken an die plötzliche Aufhebung der Schutzmaßnahmen mulmig zumute.
Für Sara Gluvic ist der "Freedom Day" nicht unbedingt ein Tag der Freude. Die 26-Jährige arbeitet als Werkstudentin bei einem Discounter. Dort erlebte sie auch, wie zu Hochzeiten der Pandemie eine "Querdenker"-Demo an ihrer Filiale vorbeizog. Große Gruppen von Maskenverweigerern strömten in den Supermarkt. "Es gab auch danach immer wieder Probleme mit Kollegen, die beschimpft wurden, weil sie Kunden um das Tragen der Maske gebeten haben", beschreibt Sara Gluvic.
Berlin: "Ich fürchte mich vor unhygienischen Kunden"
Es komme auch immer wieder vor, dass Kunden auf die Lebensmittel husten oder niesen. "Was auch abseits von Corona teilweise echt eklig zu beobachten ist", so die 26-Jährige. "Vor Kurzem beobachtete ich einen Kunden, wie er sich eine Prise Gewürzmischungen auf seine Hand kippte und diese anschließend ableckte. Mir wurde schlecht bei dem Gedanken, dass er gleich die Produkte und eventuell das Geld anfassen würde, mit denen ich kurz darauf in Berührung komme."
So ein Verhalten könnte sich ohne die Hygieneschutzmaßnahmen wieder stärker etablieren: "Ich fürchte mich vor unhygienischen und respektlosen Kunden."
Durch die Pandemie hat sich die Studentin vermehrt Gedanken über das Thema Arbeitsschutz gemacht: "Zu Beginn der Pandemie nannte man uns im Discounter "Helden des Alltags", auch wenn ich mich wie viele Kollegen nicht unbedingt so wahrgenommen habe." Es sei wenig Heldenhaftes daran, wenn man sein Geld nun mit einem höheren Risiko verdienen müsse, so Gluvic. "Ich würde mir wünschen, dass die Supermärkte eine weiterhin bestehende Maskenpflicht im Laden durchsetzen würden."
Zahlreiche große Handelsketten kündigten jedoch bereits an, die Maskenpflicht in ihren Filialen nicht per Hausrecht durchzusetzen. Unter ihnen sind Edeka, Lidl, Penny und Aldi.
Auch Sara Gluvic erkrankte im letzten Sommer an Corona, seitdem hat sie leichte Atemprobleme, wenn sie acht Stunden lang ihre Maske trägt. Dennoch hält sie die Maske für wichtig. "Aus Solidarität." Zum Schutz der Anderen und ihr selbst. "Vielleicht klingt es etwas provokant, aber ich verstehe ehrlich nicht, warum es so schwer oder hinderlich sein soll, für eine halbe Stunde eine Maske aufzusetzen, wenn es andere schützen kann." Ihre Gedanken sind auch von einem schweren Verlust geprägt, den sie erst vor wenigen Wochen erfahren musste: Ihre Großmutter verstarb an Corona. "Sie war 77 Jahre alt und immer fit. Das habe ich nicht kommen sehen."
Daher freut es sie, von vielen Kunden zu hören, die weiterhin freiwillig mit Maske einkaufen gehen wollen – und sich beim Gedanken an ein Wegfallen der Pflicht ähnlich unwohl fühlen.
Ein bisschen schmunzelt die Studentin aber auch: "Ich bin ein ganz klein wenig gespannt, wie einige unserer Stammkunden, die mir seit fast zwei Jahren immer mit Maske begegnen, so ganz ohne aussehen – vielleicht erkenne ich sie gar nicht wieder."
Für manche ist Corona besonders gefährlich – viele machen sich Sorgen
Ein anderer Berliner, der gemischte Gefühle hat, wenn es um den "Freedom Day" geht, ist Patrick Buchholz. Das hat für den 33-Jährigen vor allem gesundheitliche Gründe: "Ich habe als junger Mensch zweimal einen Spannungspneumothorax erlitten, bei dem, einfach gesagt, die Lunge reißt, Luft in den Brustkorb eindringt und die Lunge kollabieren lässt." Inzwischen ist Buchholz zwar wieder gesund, dennoch hat er nach wie vor ein verringertes Lungenvolumen – damit ist Corona für ihn besonders gefährlich.
Eine Infektion könnte für ihn bedeuten, noch mehr Lungenleistung zu verlieren. "Schon jetzt muss ich nach zwei Stockwerken Treppensteigen pausieren", so der 33-Jährige. Eine weitere Schädigung seiner Lunge durch Covid könnte für ihn bedeuten, den Alltag nicht mehr alleine bewältigen zu können. Deshalb lebte er vor der Impfung fast vollständig isoliert. Auch jetzt ist er noch immer vorsichtiger als nötig.
Der Medienwissenschaftler und Ersteller des Podcasts "Zerteilte Zukünfte" hadert zudem mit dem Begriff "Freedom Day": Der Begriff sei mit der gesetzlichen Abschaffung der Sklaverei in den USA verbunden. Die Ignoranz, diesen Begriff einfach zu übernehmen, ist ihm peinlich. "Zum anderen erkenne ich als Medienwissenschaftler ganz klar, dass hier ein Framing aus Rechten- und "Querdenker"-Kreisen stattfindet: weg von der Freiheit, nicht an Covid zu erkranken, hin zur Freiheit, keine Rücksicht auf andere nehmen zu müssen", sagt Buchholz.
"Natürlich möchte ich auch wieder so leben wie vorher und ich kann jeden verstehen, der nach mehr als zwei Jahren Pandemie Normalität zurückhaben will. Ich will das auch. Jedoch hat man schon das Gefühl: Wenn Ungeimpfte gar keine Einschränkungen mehr erleben, haben die "Querdenker" gewonnen – und das bockige Verweigern hat sich am Ende doch gelohnt. Allerdings kann ich darüber hinwegsehen – ich will auch nicht aus einem Gefühl der Vergeltung heraus die Lage schlimmer machen als sie ist." Dennoch ist Patrick Buchholz unwohl damit, zukünftig eine Maske in der Öffentlichkeit zu tragen. "Weil ich dann damit auffallen werde. Da dieses Thema politisch so aufgeladen ist, habe ich Sorge, für irgendwelche Leute zur Zielscheibe zu werden, die meinen Selbstschutz als Statement missverstehen und sich provoziert fühlen."
"Trotzdem stand ich immer hinter den Schutzregeln"
Während Patrick Buchholz vor allem aufzeigt, wo die Bevölkerung in Krisenzeiten zu zerbrechen droht, kann die zweifache Mutter Marlene von Steenvag von neuen Erfahrungen der Verbundenheit erzählen. "Als eigenverantwortlicher Mensch, der selbst entscheiden kann, ob er eine Maske trägt oder nicht, oder sich impfen lässt oder nicht und Menschen trifft oder eben nicht, hatte ich immer das Gefühl, mich selbst ganz gut schützen zu können. Wen ich aber nicht schützen konnte, waren meine kleinen Kinder. Hier in der Kita in Prenzlauer Berg habe ich eine große Solidarität erlebt. Eltern, die Kontakte stark vermieden haben, damit ihre Kinder in die Kita können und andere Kinder trotzdem sicher sind."
Es ist ihr wichtig, dass das Bewusstsein, dass kleine Kinder immer noch geschützt werden müssen, nicht völlig verschwindet. Neben der elterlichen Perspektive hat Marlene von Steenvag die Corona-Zeit vor allem aus der Sicht einer Künstlerin erlebt. Die 41-Jährige ist eine bekannte Burleske-Tänzerin und leitet eine Tanzschule in der Hauptstadt.
"Unsere Szene wurde arg gebeutelt, das waren ganz schwierige Zeiten." Von ihrem Umfeld hat sie dabei sehr viel Unterstützung erfahren. "Dennoch musste ich erkennen, wo wir Kreative politisch wirklich stehen: ganz unten. Und trotzdem stand ich immer hinter den Schutzregeln."
"Wir werden uns weiterhin gegenseitig schützen"
Ohne körperliche Gesundheit wäre auch ihre Tanzkarriere ruiniert. Deshalb wird sie in ihren eigenen Räumen weiterhin auf Vorsichtsmaßnahmen setzen: "Wir bewegen uns in der Tanzschule sehr viel, da atmet man einfach mehr. Deshalb werde ich vor unseren Kursen einfach weiterhin kostenlose, freiwillige Tests anbieten und wieder auf die Eigenverantwortung und die Solidarität der Teilnehmer setzen. Wir mögen und schätzen uns – also werden wir uns weiterhin gegenseitig schützen."
Für von Steenvag ist die ganze Angelegenheit auch eine Frage des guten Stils: "Bei den Menschen, die eher gegen die Maßnahmen sind, beobachte ich viel generelle Lebensunzufriedenheit. Einige sind sogar so unzufrieden, dass sie den Respekt vor anderen verlieren. In Asien tragen viele Menschen aus Höflichkeit auch bei einer Erkältung eine Maske, um andere nicht anzustecken. Diese Art von Rücksichtnahme würde ich mir auch abseits der Corona-Thematik für unsere Kultur wünschen."
- Reporterin vor Ort