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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Volle Bahnen wegen Streiks Eine Zugfahrt "wie in einer Sardinenbüchse"
Für den ersten Streiktag hatte auch ein t-online-Reporter eine Zugfahrt von Berlin nach Wolfsburg gebucht. Diese fand zwar statt – allerdings anders als erwartet. Ein Reisebericht.
Die Strecke Berlin–Wolfsburg: Eigentlich ein Katzensprung für Pendler, außer es ist Streiktag in Deutschland. Die Reise in meine niedersächsische Heimat war schon länger geplant. Als ich am Vorabend vom Streik der Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) hörte, dachte ich mir: Den Trip kannst du vergessen.
Am nächsten Morgen um 7 Uhr 44 erhalte ich eine Mail der "DB Reisebegleitung", in der es heißt: "Auf Ihrer heutigen Fahrt von Berlin nach Gifhorn fällt der Halt in Berlin aus."
Bis zu meiner eigentlichen Abfahrt sind es rund eineinhalb Stunden. Die DB Navigator App, über die ich mein Ticket gebucht hatte, macht mir wenig Hoffnung, einen Zug zu bekommen, der mich aus Berlin wegbringt. Ich suche nach Alternativen. Aber der Flixbus hält nicht in Wolfsburg, und die beiden Busse, die nach Braunschweig fahren, sind schon ausgebucht.
Zug soll fahren – steht aber nicht auf der Anzeigetafel
Ich fahre trotzdem zum Hauptbahnhof, mit der S-Bahn, die im 20 Minuten-Takt-verkehrt. Das erledigt an diesem Morgen nur eine Linie, die S5.
Am Hauptbahnhof angekommen, entdecke ich auf der Anzeigetafel, dass mein Zug sehr wohl fahren soll. Doch am Gleis 7 ist mein ICE dann doch nicht angekündigt. Wohl aber ein Regionalzug nach Rathenow und danach weitere Züge in der Mittagszeit. Es gibt an diesem Tag wenig zu kommunizieren – und selbst das kriegt die Deutsche Bahn nicht vernünftig hin, denke ich mir.
Heute ist kein normaler Tag
Im nächsten Moment fährt der ICE tatsächlich ein – mein ICE!
Alle wartenden Passagiere strömen auf den Zug zu. Immerhin, drinnen werden die Platzreservierungen angezeigt – keine Selbstverständlichkeit an einem Tag wie diesem. Dafür lahmt das Bord-Internet, und wir müssen noch auf das Personal für den zweiten Zugteil warten. Normalerweise wird dieser ICE in Hamm in Westfalen getrennt, der eine Teil fährt weiter nach Köln, der andere nach Düsseldorf. Heute wird der Zug nicht getrennt, denn heute ist kein normaler Tag.
Und zwar in keiner Hinsicht: Ich kann mein Glück kaum fassen, denn mein Zug fährt mit wenigen Minuten Verspätung los und ich habe einen Sitzplatz, im Gegensatz zu vielen armen Mitreisenden, die überall im Eingangsbereich sitzen oder stehen, mit leerem Blick und roten Wangen, weil sie alle zwei Minuten aufstehen oder ein Bein einziehen müssen, wenn jemand des Weges kommt oder die Toiletten verlässt. In einer Sardinenbüchse ist mehr Platz.
Passagiere quillen aus den Türen
Mein Zug bringt mich mit wenigen Minuten Verspätung nach Wolfsburg, wo ich sogar noch meinen Anschlusszug bekomme, der mich in meine Geburtsstadt bringt. Ich gehöre heute zu den gefühlt 10 Prozent der Deutschen, deren Reisepläne wider jede Erwartung an einem Streiktag aufgehen. Als ich in Wolfsburg aussteige und zurückblicke, sehe ich Passagiere aus den offenen Türen quillen. Viele steigen hier nicht aus, sie wollen sich nur mal strecken und frische Luft schnappen.
Acht Stunden später: Auf dem Rückweg habe ich wieder großes Glück. Der ICE 643 holt mich direkt in Wolfsburg ab – dieser Extrahalt wird heute eingelegt, weil alle anderen Züge Richtung Berlin wegfallen. Diesmal muss ich auf dem Boden sitzen, denn ich habe vergessen, einen Platz zu reservieren.
In jedem Eingangsbereich stehen mindestens ein Dutzend Leute. Der Passagier, der gleichzeitig zwei Plätze belegt und schläft, fällt mir besonders unsympathisch auf.
Wieder lahmt das Internet an Bord, denn viel zu viele Menschen wollen auf einmal Nachrichten lesen oder ihre Lieblingsserie streamen. Per Durchsage werden wir daraufhin gewiesen, dass der Zug "sehr voll" ist. Aus diesem Anlass erinnert man uns an die Verpflichtung zum Tragen einer Maske.
Immer noch lange Schlange am DB-Informationsschalter
Ich fühle mich an den "Snowpiercer" erinnert, den letzten Zug der Menschheit, der in dem gleichnamigen Film durch die vereiste Einöde fährt. Die Stimmung bei mir im "Streikpiercer" ist locker: Keiner mosert, keiner grantelt, niemand schubst, jedenfalls nicht bei mir in Wagen 33. Vielleicht waren eineinhalb Jahre Pandemie eine super Lektion in Sachen Resilienz. Oder die Corona-Maßnahmen haben uns einfach demütig gemacht und dankbar, dass wir zu den Auserwählten gehören, die zusammen in einem knallvollen Zug sitzen dürfen.
Zurück am Hauptbahnhof in Berlin holt mich die Realität wieder ein. Die Anzeige der S-Bahn verweist lieblos auf den 20-Minuten-Takt, ohne mir eine Ahnung zu geben, ob ich jetzt eine Minute warten muss oder 19. Durch das Erdgeschoss zieht sich eine lange Schlange vor dem Informationsschalter. Der Streik ist noch lange nicht vorüber.
- Eigene Beobachtungen