Pole heimtückisch erschossen Ex-Stasi-Mitarbeiter wegen Mordes an Sektorenübergang angeklagt
Im November 2004 ist das bislang letzte Urteil zu Toten an der innerdeutschen Grenze gesprochen worden. Knapp 34 Jahre nach der Mauerfall soll nun ein weiterer Fall vor Gericht kommen.
Ein Ex-Mitarbeiter des Ministeriums für Staatssicherheit der DDR ist wegen Mordes angeklagt. Der heute 79-Jährige soll in seiner damaligen Funktion einen 38-Jährigen am Kontrollpunkt nach West-Berlin erschossen haben, teilte die Berliner Staatsanwaltschaft am Donnerstag mit. Am Landgericht Berlin sei deshalb nun Anklage wegen heimtückischen Mordes erhoben worden.
Wie die Behörde am Donnerstag mitteilte, ereignete sich der Vorfall am 29. März 1974 am Bahnhof Friedrichstraße. Das Opfer, ein polnischer Staatsbürger, hatte demnach zuvor in der polnischen Botschaft mit einer Bombenattrappe seine Ausreise in den Westen erzwingen wollen.
Angeklagter soll zur "Unschädlichmachung" beauftragt worden sein
Laut der Staatsanwaltschaft soll das Ministerium für Staatssicherheit daraufhin entschieden haben, die Ausreise des Mannes zum Schein zu genehmigen. Dafür soll er auch die entsprechenden Ausreisedokumente bekommen haben und Ministeriumsmitarbeiter begleiteten ihn zum damaligen Sektorenübergang am Bahnhof Friedrichstraße.
Als er dort jedoch am frühen Nachmittag des Märztages den letzten Kontrollpunkt passiert hatte, fiel der Schuss. Laut Anklage soll der Angeklagte, der einer Operativgruppe des Ministeriums für Staatssicherheit angehört haben soll, das 38 Jahre alte Opfer "mit einem gezielten Schuss in den Rücken aus einem Versteck heraus" getötet haben. Er sei demnach mit der "Unschädlichmachung" des Polen beauftragt worden.
Ermittlungen stockten jahrelang
Die Ermittler waren über viele Jahre nicht vorangekommen. Erst 2016 habe es einen entscheidenden Hinweis zur Identität des Schützen aus dem Stasi-Unterlagen-Archiv gegeben, erklärte Sprecher Sebastian Büchner. Anders als heute sei man jedoch zunächst von einem Totschlag ausgegangen. In diesem Fall wäre die Tat verjährt gewesen. Knapp 34 Jahre nach dem Mauerfall sieht die Berliner Staatsanwaltschaft jedoch das Mordmerkmal der Heimtücke erfüllt, wie der Büchner sagte.
Auf der Website "Chronik der Mauer" wird der Fall des Polen Czesław Kukuczka ausführlich beschrieben. Zusammengetragen wurden die Daten in einem gemeinsamen Projekt des Leibniz-Zentrums für Zeithistorische Forschung Potsdam, der Bundeszentrale für politische Bildung, des Deutschlandradios und der Stiftung Berliner Mauer.
Staatsanwaltschaft griff den Fall routinemäßig auf
Die Zentrale Erfassungsstelle der Landesjustizverwaltungen in Salzgitter habe 1974 unverzüglich Vorermittlungen eingeleitet, heißt es auf der Website. Die Einrichtung, die Unrechtstaten in der DDR dokumentierte und Beweismittel sammelte, habe die örtliche Kriminal- und Polizeiinspektionen in West-Berlin befragt. Doch der Polizei sei der Fall nicht bekannt gewesen. Auch den drei Schutzmächten West-Berlins – Frankreich, England und USA – lagen demnach keine Informationen vor. In der DDR-Presse sei nichts zu dem Vorfall gemeldet worden. Im Westen war demnach ein Artikel in der "Bild"-Zeitung erschienen – sonst nichts.
Dreieinhalb Jahre später sei die Zentrale Ermittlungsgruppe für Regierungs- und Vereinigungskriminalität bei einer systematischen Auswertung aller Obduktionsgutachten, in denen Schussverletzungen erwähnt wurden, dann auf den Fall von Kukuczka gestoßen. Zu Beginn der 1990er Jahre, nach dem Untergang der DDR und im Zuge der Ermittlungen wegen der Gewalttaten an der Berliner Mauer, griff die Staatsanwaltschaft Berlin den Fall vermutlich routinemäßig aufgrund der Salzgitter-Akte wieder auf – ohne Ergebnis. Auch weitere Ermittlungen endeten schließlich im Dezember 2005 mit einer Einstellung des Verfahrens.
Fall wurde nie zu den Akten gelegt
Der Fall sei aber nie komplett zu den Akten gelegt worden, erklärte der Sprecher der Berliner Staatsanwaltschaft. Zuletzt seien schließlich Ermittlungen in Polen Anlass gewesen, die Unterlagen erneut anzuschauen.
Der Prozess gegen den früheren Stasi-Mitarbeiter soll nun vor dem Landgericht Berlin verhandelt werden. Zunächst muss jedoch eine Kammer darüber entscheiden, ob die Anklage zugelassen wird. Ausschlaggebend wird dabei sein, ob das Gericht der Argumentation der Staatsanwaltschaft folgt und ausreichend Hinweise für einen Mordverdacht sieht.
Zahlreiche "Mauerschützenprozesse" in Berlin
Das Berliner Landgericht hat nach dem Mauerfall Geschichte geschrieben mit Prozessen zu den Toten an der innerdeutschen Grenze. Im ersten sogenannten Mauerschützenprozess, der im September 1991 vor dem Landgericht Berlin begann, ging es um die Tötung des letzten Opfers der deutschen Teilung, das nur neun Monate vor der Öffnung der Grenzen sterben musste - Chris Gueffroy.
Bis zum vorerst letzten Prozess im Jahr 2004 wurden 130 Personen rechtskräftig verurteilt – vom einfachen Mauerschützen bis zu hochrangigen Vertretern aus Politik und Militär. Die höchste Strafe bekam DDR-Verteidigungsminister Heinz Keßler mit siebeneinhalb Jahren Gefängnis.
- berlin.de: Pressemitteilung der Staatsanwaltschaft Berlin vom 12. Oktober 2023
- Mit Informationen der Nachrichtenagentur dpa