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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Silvester-Eskalation in Berlin "Denen ist nicht mehr zu helfen"
Wie konnte die Gewalt in der Berliner Silvesternacht so eskalieren? Eine Spurensuche bei Anwohnern in der Neuköllner Sonnenallee.
Auch am dritten Tag des Jahres ist er noch da, wie ein Mahnmal für die Geschehnisse der Silvesternacht. Der Bus auf der Neuköllner Sonnenallee, vollkommen ausgebrannt, wohl von randalierenden Jugendlichen in Brand gesteckt. Immer wieder bleiben Leute stehen und fotografieren das Wrack, sagen Dinge wie "krass" oder "schrecklich".
Dass in Berlin an Silvester einige über die Stränge schlagen, ist nichts Neues. Nach dieser Silvesternacht sprechen aber auch erfahrene Einsatzkräfte über eine neue Dimension der Gewalt. Ein Feuerwehrmann berichtete im Gespräch mit t-online von "geplanten Hinterhalten" und massiven Angriffen durch junge Randalierer.
Einer der Hotspots der Eskalation war der Bereich rund um die High-Deck-Siedlung im südöstlichen Teil der Sonnenallee. Hier ist der Bus abgebrannt, direkt unter einem über die Straße gebauten Haus. Was denken die Menschen hier über die Ereignisse?
"Wir haben hier eine hohe Arbeitslosigkeit"
"Es ist scheiße, was hier passiert ist, dass die sich hier bekriegen", sagt Ali*. Der 30-Jährige wohnt seit sieben Jahren in der Gegend. Silvester habe er aber bewusst nicht hier verbracht, weil er schon wisse, wie es abgehe. "Vielleicht war es diesmal noch ein bisschen schlimmer, weil man zwei Jahre lang nicht feiern durfte." Seine Erklärung für die Aggression? "Langeweile. Viele junge Leute hier langweilen sich und lassen dann an Silvester ihren Frust raus." Ein Grund dafür sei die Perspektivlosigkeit. "Wir haben hier eine hohe Arbeitslosigkeit", sagt Ali, der selbst im Bezirksamt arbeitet.
Ali glaubt, dass auch fehlende Integration eine Rolle spiele. "Hier leben hauptsächlich Türken und Araber", sagt der Mann, der selbst türkischstämmig ist. Er wünsche sich eine bessere Durchmischung des Viertels. "Wenn alle nur unter sich bleiben, ist es etwa schwerer, Deutsch zu lernen und einen Job zu bekommen. Es ist ein Teufelskreis." Er selber wohne inzwischen nicht mehr so gerne hier. Wegen der hohen Mieten könne er sich aber keinen Umzug leisten.
"Schau dir das an, es ist so dumm"
"Die Mehrheit der Menschen in Neukölln wünscht sich ein härteres Durchgreifen, einen stärkeren Staat", sagte Neuköllns Integrationsbeauftragte Güner Balci dem "Spiegel" in einem Interview. Diese Einschätzung wird bestätigt, wenn man sich mit den Menschen hier unterhält.
Zum Beispiel mit Can. Der 33-Jährige kommt aus Izmir in der Türkei und lebt seit zwei Jahren in Neukölln. "Schau dir das an, es ist so dumm", sagt er und zeigt auf den abgebrannten Bus. Das müsse kommendes Silvester verhindert werden. "Ich will keine Angst haben müssen, wenn ich durch meine Nachbarschaft laufe", sagt er.
Der Staat solle viel strenger sein. "Wer Böller auf Menschen oder Balkone wirft, gehört ins Gefängnis", sagt Can. Für ihn grenze das schon an versuchten Mord. Er ist skeptisch, ob ein generelles Böllerverbot wirklich etwas bringen würde. "Letztes Jahr war es ja verboten, aber da sind sie halt nach Polen gefahren und haben sich da ihr Zeug besorgt."
Ein paar Meter die Straße runter befindet sich "Elcin's Treffpunkt", eine kleine Kneipe. Etwa acht Männer sitzen hier zusammen, lassen sich von Besitzer Elcin Bier und Kaffee kredenzen und rauchen. Sie sind Stammgäste und wohnen alle in der Gegend. Was sie an Silvester gemacht haben? "Ich bin irgendwann nachts nach Hause gekommen und hab meine Zigarette in den Bus da vorne geworfen", sagt einer. Alle lachen. Wenn man mit ihnen über das Leben hier im Viertel spricht, werden sie schnell wieder ernst. Randalierende Jugendliche seien das ganze Jahr über ein Problem. "Es ist immer schlimmer geworden", sagt einer. Vor zwanzig Jahren sei noch alles entspannter gewesen.
Sind die Eltern zu streng oder nicht streng genug?
Über die Gründe der Eskalation sind sich die Männer uneinig. Die Eltern der jungen Männer seien nicht mehr streng genug, sagt einer. Die Eltern seien sehr streng, deshalb wären sie zu Hause brav und würden dann draußen ihren Aggressionen freien Lauf lassen, sagt ein anderer. In einem sind sich aber alle einig: Es brauche härtere Gesetze, die dann auch durchgesetzt werden müssten.
Die Sonne geht langsam unter über der Sonnenallee. In der Ferne knallen immer wieder vereinzelte Böller. Ein paar Jungs bleiben vor dem Buswrack stehen, machen Fotos. An Silvester seien sie nicht hier gewesen, sagen sie.
Die 19-jährige Schülerin Farida kommt mit ihrer Mutter vorbei und bleibt kurz stehen. "Letztes Jahr haben hier nur Mülltonnen gebrannt. Dass sie so weit gehen, hätte ich nicht gedacht", sagt sie. Sie habe keine Ahnung, was in den Köpfen der Jungs vorgehe, die so etwas machen. "Denen ist nicht mehr zu helfen", sagt sie.
*Name von der Redaktion geändert
- Reporter vor Ort
- spiegel.de: "Die Mehrheit der Menschen in Neukölln wünscht sich einen stärkeren Staat" (kostenpflichtig)