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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Inflation und Ukraine-Krieg Berliner Tafeln am Limit: "Drei Kartoffeln für jeden würden nichts bringen"
Innerhalb weniger Wochen hat sich die Zahl der Tafel-Kunden in Berlin-Reinickendorf verdoppelt. Inflation und Krieg bringen Bedürftige und Helfer an ihre Grenzen. Ein Ortsbesuch.
Zögerlich nähert sich ein älterer Mann mit dichtem Schnauzer dem Kircheneingang. "Bin ich hier richtig bei der Tafel?", fragt er mit brüchiger Stimme. Seine Schirmmütze hat er abgenommen und klammert sich mit beiden Händen an ihr fest.
Die Mitarbeiterinnen der Reinickendorfer Tafelausgabe müssen ihn enttäuschen. "Wenn Sie noch nicht angemeldet sind, können wir Sie leider nicht bedienen", sagt eine der Frauen. "Es kommen einfach zu viele gerade." Dem Mann ist seine Verzweiflung anzusehen, er kämpft mit den Tränen. Fragen möchte er keine beantworten. "Ich schäme mich ein bisschen", sagt er.
Viele Ausgabestellen in Berlin können niemanden mehr aufnehmen
Ähnliche Szenen spielen sich gerade regelmäßig vor der Segenskirche in der Auguste-Viktoria-Allee ab. Seit Anfang Juni kann die dortige Ausgabestelle der Berliner Tafel keine neuen Kundinnen und Kunden mehr aufnehmen. Innerhalb von fünf Wochen hat sich die Zahl der Haushalte, die dort wöchentlich Lebensmittel abholen, fast verdoppelt: von 80 auf 150.
Mehr als 150 Haushalte könne man vor Ort nicht bedienen, sagt Ingrid Winterhager, die seit 15 Jahren ehrenamtlich in der Ausgabestelle arbeitet. "Es würde nichts bringen, wenn wir jedem nur drei Kartoffeln geben könnten", sagt sie.
Die meisten Neukunden sind Geflüchtete aus der Ukraine
Auch viele andere Ausgabestellen in Berlin werden dem Andrang nicht mehr gerecht. Ganz leer sollen die Bedürftigen aber nicht ausgehen. Die Tafel hat kurzfristig insgesamt sieben sogenannte Pop-up-Ausgabestellen eingerichtet, wo diejenigen hingeschickt werden, die sonst nicht mehr bedient werden können. Dort erhalten sie vorgepackte Tüten mit Lebensmitteln. Laut einer Tafelsprecherin werden etwa 2.000 Tüten pro Woche ausgegeben.
An einer Ausgabestelle im Stadtgebiet gebe es einen kompletten Aufnahmestopp ohne Pop-up-Ausgabe im Hintergrund. Welche das ist, möchte die Tafel nicht sagen.
Hauptursache für die stark gestiegene Nachfrage bei den Tafeln ist der Krieg in der Ukraine. Die meisten Neukundinnen und -kunden sind ukrainische Geflüchtete. Aber auch die enorm gestiegenen Lebensmittelpreise treiben Menschen zur Tafel, bei denen es vor Kurzem noch gerade so gereicht hat.
Job in der Corona-Pandemie verloren
So wie Regina Mellin. Die 63-Jährige hat ihren Job in der Gastronomie zu Anfang der Corona-Pandemie verloren. Seit ein paar Monaten kommt sie zur Tafel – weil es anders nicht mehr geht. "Ich hätte mir nie vorstellen können, dass ich mal hier lande", sagt sie in breitem Berlinerisch. Sie sei der Tafel sehr dankbar, ihr Vertrauen in die Politik habe sie aber komplett verloren. "Es geht nur um Profit, wir sind denen scheißegal."
Seit Beginn des Krieges habe sich die Situation bei der Ausgabe deutlich verändert. Mehr Andrang bedeute auch: weniger Lebensmittel für alle. Sie merke das, wolle sich aber nicht beschweren, sagt Mellin. "Die Menschen aus der Ukraine können ja nichts dafür, dass da Krieg herrscht." Sie komme schon irgendwie klar. "Muss ja gehen, wa?"
So viel Verständnis zeigt nicht jeder. Eine Frau behauptet, dass die Ukrainer bei der Ausgabe bevorzugt würden. Eine andere beschwert sich lautstark über die lange Wartezeit. "Vereinzelt gibt es Sozialneid und Sprüche wie 'Die nehmen uns alles weg'", sagt Winterhager. Die Ehrenamtlichen würden versuchen, so etwas im Keim zu ersticken.
"Die Politik wälzt es aufs Ehrenamt ab"
Die Situation ist auch für die Helfenden belastend. An Ausgabetagen sind sie teilweise bis zu elf Stunden im Einsatz: mit Transportern Spenden von Supermärkten einsammeln, sortieren, in der Kirche alles aufbauen, ausgeben, aufräumen. Hinzu kommt die psychische Belastung, Bedürftige abweisen zu müssen oder weniger ausgeben zu können.
Winterhager findet es gut, dass Deutschland die Menschen aus der Ukraine so schnell aufgenommen hat. Aber sie sagt auch: "Die Politik wälzt es aufs Ehrenamt ab." Sie fragt sich, ob der Staat nicht auch dafür sorgen könne, dass die Menschen zum Start hier gut versorgt sind. "Fürs Militär ist plötzlich viel Geld da, vieles andere bleibt auf der Strecke."
Viele Syrer, die 2015 kamen, sind immer noch auf die Tafel angewiesen
Die Ehrenamtlichen sind am Limit. "Früher hat es mehr Spaß gemacht", hört man immer wieder. Weitermachen wollen sie trotzdem. "Ich hatte vor Kurzem wieder einen Moment, der für alles entschädigt", erzählt Petra Karing, die schon seit 2006 mithilft.
Zufällig habe sie eine Frau wiedergetroffen, die 2015 als Geflüchtete nach Deutschland gekommen war: drei Kinder, verwitwet, verzweifelt und auf die Tafel angewiesen. "Sie ist mir um den Hals gefallen und hat sich bedankt. Inzwischen hat sie eine Festanstellung, alle Kinder haben Abitur."
Andere hatten weniger Glück. "Viele der Menschen aus Syrien, die seit 2015 hier sind, sind immer noch auf uns angewiesen", sagt Winterhager. Viele von ihnen hätten wenig Perspektive in Deutschland.
Sie hofft, dass es wenigstens für die Menschen aus der Ukraine einfacher wird. Sicher ist sie sich aber nicht. Mit einer baldigen Entspannung der Situation bei den Tafeln rechnet sie nicht. "Ein Ende des Krieges in der Ukraine ist nicht absehbar." Sie und ihr Team werden weiter alles dafür tun, die Bedürftigen mit dem Nötigsten zu versorgen.
- Reporter vor Ort