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22. Juni 1941: "Die Deutschen zogen eine Blutspur durch die Sowjetunion"


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"Unternehmen Barbarossa"
"Die Deutschen zogen eine Blutspur durch die Sowjetunion"

InterviewVon Marc von Lüpke

Aktualisiert am 21.06.2021Lesedauer: 7 Min.
"Unternehmen Barbarossa": Am 22. Juni 1941 überfiel das nationalsozialistische Deutschland die Sowjetunion (Propagandabild).Vergrößern des Bildes
"Unternehmen Barbarossa": Am 22. Juni 1941 überfiel das nationalsozialistische Deutschland die Sowjetunion (Propagandabild). (Quelle: ullstein-bild)
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Vor 80 Jahren, am 22. Juni 1941, griff die Wehrmacht die Sowjetunion an. Der Historiker Sönke Neitzel erklärt, warum das "Unternehmen Barbarossa" zum Scheitern verurteilt war. Und wie grausam die deutschen Pläne waren.

t-online: Professor Neitzel, Millionen Soldaten hatte Adolf Hitler aufmarschieren lassen, am 22. Juni 1941 überfiel die Wehrmacht dann die Sowjetunion. Wie konnte die Rote Armee derart überrascht werden?

Sönke Neitzel: Den Sowjets waren die zahlreichen Divisionen der Wehrmacht in der Nähe ihrer Westgrenze selbstverständlich nicht verborgen geblieben. Selbst der deutsche Botschafter in Moskau hatte den Diktator Josef Stalin zudem vor dem Angriff gewarnt. Allerdings vergeblich. Denn Stalin konnte einfach nicht glauben, dass Hitler so leichtsinnig war, einen Zweifrontenkrieg zu eröffnen.

Aber Hitler war es durchaus. Und wiederholte so den deutschen Fehler aus dem Ersten Weltkrieg.

In der Tat. Aber in gewisser Weise misstraute Stalin den Westmächten damals mehr als den Deutschen. Seine Hoffnung bestand darin, dass sich die kapitalistischen Staaten in einem langen Ringen selbst zerfleischen würden und die Sowjetunion am Ende daraus Kapital schlagen könne. Weil Stalin die deutsche Truppenkonzentration als Drohgebärde fehlinterpretierte, wurde dann auch keine Alarmbereitschaft für die an der Westgrenze der Sowjetunion stationierten Truppen der Roten Armee erlassen.

So wurde dann der deutsche Überfall in den Morgenstunden des 22. Juni 1941 ein voller Erfolg. Aber wie wollte die Wehrmacht dieses Land gegen den Widerstand der Roten Armee erobern und besiegen? Die Frontlinie reichte nach einiger Zeit von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer.

Die Wehrmacht wollte es ähnlich wie zuvor in Polen und Frankreich machen: Stalins Armeen sollten in einem Bewegungskrieg in großen Kesselschlachten zerschlagen werden. Schnelligkeit war dabei entscheidend, die deutschen Panzertruppen sollten der Roten Armee rasch das Rückgrat brechen. Nach den Grenzschlachten würde die Kriegsentscheidung gefallen sein und die Deutschen glaubten, dann nur noch nach Osten marschieren zu müssen.

Napoleon Bonaparte war 1812 an der Weite Russlands gescheitert, deutsche Truppen konnten im Ersten Weltkrieg einen Eindruck von der Größe des Landes gewinnen. Waren die Planungen der Wehrmacht illusorisch?

Tatsächlich dienten die Erfahrungen aus dem Ersten Weltkrieg als Vorbild. Damals hatten die Deutschen weite Gebiete Russlands unter Kontrolle gebracht, sogar bis in den Kaukasus waren Truppen vorgedrungen. Für den deutschen Angriff auf die Sowjetunion 1941 war den Planern klar, dass Tempo vor allem anderen kam. Die ganze Strategie und Logistik war darauf ausgerichtet, die Rote Armee in den Auftaktkämpfen zu vernichten.

Sönke Neitzel, Jahrgang 1968, lehrt seit 2015 Militärgeschichte und Kulturgeschichte der Gewalt an der Universität Potsdam. Der Historiker ist Experte für die Zeit des Zweiten Weltkriegs, seine Bücher wie "Abgehört. Deutsche Generäle in britischer Kriegsgefangenschaft 1942–1945" von 2005 und "Soldaten. Protokolle vom Kämpfen, Töten und Sterben" (zusammen mit Harald Welzer) von 2011 widerlegen die Legende von der "sauberen Wehrmacht". Ende 2020 erschien "Deutsche Krieger. Vom Kaiserreich zur Berliner Republik – eine Militärgeschichte".

Je weiter die Wehrmacht nach Osten vordringen musste, desto schwieriger wäre die Versorgung der Soldaten gewesen.

Genau. Ein kurzer Feldzug im Osten, dann sollten die Soldaten zurück in die Fabriken gehen. Um Schiffe und Flugzeuge für den Krieg gegen die Westmächte herzustellen. Erst Großbritannien, später dann die Vereinigten Staaten aller Wahrscheinlichkeit nach.

Aus diesen Plänen wurde allerdings nichts, die Sowjetunion gab nicht auf.

Die Rotarmisten kämpften weiter, Woche für Woche, Monat für Monat. Millionen sowjetische Soldaten gingen in Gefangenschaft nach großen Kesselschlachten, von den Toten und Verwundeten ganz zu schweigen. Aber der Krieg ging weiter – und auch die deutschen Verluste waren gewaltig. Im Grunde siegte sich die Wehrmacht zu Tode.

Statt weniger Wochen sollte der Krieg im Osten Jahre dauern. Wann war der Feldzug gegen die Sowjetunion im Grunde bereits verloren?

Spätestens im August 1941 waren der deutsche Angriff und die deutsche Strategie gescheitert. Nun wurde klar, dass es nicht gelingen würde, die Rote Armee zu zerschlagen. Von da an hatte die Wehrmacht ein massives logistisches Problem, um die Truppen zu versorgen. Und nicht nur das: Die Deutschen verloren bis Jahresende 1941 mehr als 300.000 Mann an Toten. Diese Verluste waren auf die Woche herunter gerechnet nicht höher als beim Feldzug gegen Frankreich. Aber der Unterschied besteht darin, dass dieses Unternehmen nach sechs Wochen beendet gewesen ist. In der Sowjetunion eben nicht. Der Wehrmacht ging also die Puste aus.

Also lange bevor die Wehrmacht im Dezember des Jahres zumindest in die Nähe Moskaus kam. Aber wieso schickte Hitler überhaupt seine Truppen in den Krieg gegen die Sowjetunion? Mit seinen vorherigen Siegen beherrschte Deutschland bereits einen Großteil Europas.

"Lebensraum im Osten" wollte Hitler gewinnen, dazu die sogenannte jüdisch-bolschewistische Weltanschauung zerschlagen. So glaubte man auch, das Deutsche Reich blockadesicher zu machen und die wirtschaftliche Grundlage zu haben, um erfolgreich gegen Großbritannien und die USA kämpfen zu können.

Also hätten sich Hitlers Bestrebungen auf lange Sicht eher gegen die USA gerichtet?

Welche Rolle die USA in Hitlers Strategie spielte, wird unter Experten unterschiedlich gesehen. Ganz gleich, wie man das bewertet: Der ideologische Vernichtungskrieg gegen die Sowjetunion war zweifelsohne ein Kernanliegen Hitlers. Die Frage war damals nur nach dem Wann und Wie.

Zwei Fragen, die ab dem 22. Juni 1941 endgültig beantwortet waren. Der Angriff auf die Sowjetunion war dabei, wie bereits erwähnt, als Vernichtungskrieg geplant. Was unterschied diesen Konflikt von anderen?

Frühere Kriege waren meist geführt worden, um das eigene Territorium zu vergrößern oder um andere politische Ziele mit militärischen Mitteln durchzusetzen. Ab dem 22. Juni 1941 ging es aber darum, die Sowjetunion als Ganzes zu zerstören und eine rassistische Herrschaft im eroberten Gebiet zu errichten.

Bitte erklären Sie das näher.

Der Feldzug gegen die Sowjetunion war bereits ohnehin als Weltanschauungskrieg geplant. So sah etwa der sogenannte Kommissarbefehl vor, dass Politkommissare der Roten Armee zu erschießen seien, zudem sah ein anderer Erlass die Aufhebung der Kriegsgerichtsbarkeit auf ...

... wonach deutsche Soldaten, die sich an Zivilisten vergriffen, keine Strafe zu fürchten hatten.

Genau. Als weiterer Faktor kommt hinzu, dass Kriegen ohnehin meist die Dynamik innewohnt, sich mit fortschreitender Dauer zu radikalisieren. So war es auch beim Krieg gegen die Sowjetunion, bei dem die deutsche Planung vorsah, nicht als Befreier, sondern als Eroberer einzumarschieren. Die Deutschen wollten das Land bis zum Letzten ausbeuten. Das war nicht unbedingt die Haltung von jedem der mehr als drei Millionen deutschen Soldaten, die die Sowjetunion am 22. Juni 1941 angriffen, aber ganz sicher die der deutschen Führung.

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Tatsächlich nahm das Ausmaß der Gewalt bis dahin unvorstellbare Ausmaße an.

In der zweiten Hälfte des Jahres 1941 lassen sich deutlich die Entwicklung und Radikalisierung des Holocaust verfolgen. Zunächst wurden jüdische Männer erschossen, ab Ende Juli 1941 auch Frauen und Kinder. Die Ermordung der jüdischen Bevölkerung der Sowjetunion vor allem durch massenhafte Erschießungen, betrieben durch die Einsatzgruppen der Sicherheitspolizei und des SD ["Sicherheitsdienst des Reichsführers SS", Anmerk. d. Redaktion], ist eines der großen deutschen Verbrechen.

Bitte beschreiben Sie die anderen.

Rund drei Millionen Rotarmisten sind in deutscher Kriegsgefangenschaft umgekommen. Viele von ihnen sind verhungert oder an Seuchen gestorben. Diese Zahl sprengt alle bis dahin bekannten Dimensionen. Dann gab es die sogenannte Partisanenbekämpfung, bei der Schätzungen zufolge allein in Weißrussland eine halbe Million Menschen getötet worden sind. Nicht zu vergessen die Hungerpolitik, die die Deutschen betrieben haben.

Was ist mit Leningrad, das von der Wehrmacht nicht eingenommen wurde, sondern blockiert?

Leningrad ist ein Sonderfall. Hitler hatte die Blockade und damit Aushungerung der Stadt angeordnet, verschlimmert wurde die Situation dadurch, dass die Sowjets Leningrad nicht evakuiert hatten. Rund eine Million Menschen sind verhungert, erfroren oder durch Krankheiten umgekommen. Nicht vergessen dürfen wir bei den deutschen Verbrechen auch die systematische Ermordung von psychisch Kranken, der Zehntausende zum Opfer fielen. Die Deutschen zogen eine Blutspur durch die Sowjetunion.

Aber nicht die gesamte deutsche Besatzung war von Gewalt geprägt.

Es gab eine breite Kollaboration mit den Besatzern, die Deutschen legten teils Kulturprogramme für die Zivilbevölkerung auf. Wir dürfen auch nicht vergessen, dass mehr als eine Million Sowjetbürger mit den Deutschen gegen die Rote Armee gekämpft haben. Aber massive Gewalt ist tatsächlich das Charakteristikum des Kriegs in der Sowjetunion. Die von beiden Seiten ausgeübt worden ist.

Sie spielen auf die Härte an, mit der viele Rotarmisten zum Kampf gegen die Deutschen gezwungen worden sind?

Stalin hat den deutschen Vormarsch mit dem Blut seiner eigenen Leute gestoppt, er ging keineswegs sparsam mit dem Leben seiner Soldaten um. Auch die Zivilbevölkerung wurde von den Kommunisten etwa mit äußerster Brutalität zu Arbeitseinsätzen gezwungen, zigtausende Rotarmisten sind von den eigenen Leuten auf der Flucht vor der Wehrmacht als angebliche Feiglinge erschossen worden. Von den zahlreichen Soldaten, die man kaum ausgebildet und bewaffnet mit geradezu krimineller Energie gegen die deutschen Linien vorgeschickt hat, ganz zu schweigen. Es soll jetzt keineswegs die Täter-Opfer-Perspektive umkehren: Aber dass die Sowjetunion nach offiziellen Zahlen 27 Millionen Menschen im Zweiten Weltkrieg verloren hat, lag eben auch an der Art und Weise, wie Stalin diesen Konflikt führen ließ.

Aber es war doch nicht nur Gewalt, die die sowjetischen Menschen zum Kampf motivierte.

Nein, natürlich nicht. Tatsächlich hätte man im Juni 1941 annehmen können, dass die Völker der Sowjetunion den Aufstand gegen das kommunistische Regime proben. Das haben sie aber nicht, im Gegenteil. Sie haben ihre Scholle, ihr Dorf, ihre Stadt gegen die Angreifer verteidigt – also kämpften sie für ihre Heimat, weniger für den Kommunismus. Auch wenn die Propaganda etwas anderes behauptete. Generell müssen wir Nachgeborenen heute viel genauer hinschauen bei der Betrachtung dieses Konflikts.

Wie meinen Sie das?

Für uns Deutsche ist die zentrale Erinnerung an den Krieg im Osten der Holocaust, weil er ein unvorstellbarer Kulturbruch gewesen ist. Aber auch der anderen Verbrechen, wie etwa des millionenfachen Sterbens der sowjetischen Kriegsgefangenen, muss gedacht werden. Wir haben aber auch neben der Kriegserfahrung der Rotarmisten den Blick auf die rund zehn Millionen Soldaten der Wehrmacht zu richten, die an der Ostfront eingesetzt worden sind. Was haben sie erlebt, welchen Schrecken waren sie ausgesetzt?

Ging in der Erinnerung die soldatische Perspektive verloren?

Nicht nur diese. Im Osten waren ja nicht nur Soldaten auf deutscher Seite eingesetzt, sondern auch Zivilisten, über die Kollaborateure haben wir schon gesprochen. Wir müssen einen multidimensionalen Blick entwickeln, um die Geschichte des Zweiten Weltkriegs besser verstehen zu können.

Dazu wäre insbesondere der Austausch mit Russland wichtig.

Selbstverständlich. Wir haben aber Konjunkturen in der Geschichte: In den Neunzigerjahren noch war ein kritischer Blick möglich. Heute kann man in Russland viel über deutsche Verbrechen sprechen, aber nicht darüber, mit welcher Radikalität die Sowjetunion diesen Krieg geführt hat. Der Sieg über Deutschland dient heute mehr denn je dem nationalen Selbstbewusstsein.

Verwendete Quellen
  • Telefonisches Gespräch mit Sönke Neitzel
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