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Doggerland: Als Mega-Tsunamis Europas Nordseeküsten verwüsteten


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Unglück in der Tiefe
Als Mega-Tsunamis Europas Nordseeküsten verwüsteten

Von Angelika Franz

09.10.2020Lesedauer: 4 Min.
Die Nordseeküste vor rund 8.150 Jahren (Symbolbild/Bildcollage t-online): Gewaltige Tsunamis überfluteten das Land.Vergrößern des Bildes
Die Nordseeküste vor rund 8.150 Jahren (Symbolbild/Bildcollage t-online): Gewaltige Tsunamis überfluteten das Land. (Quelle: iStockphoto/Lombard/Zdenek Burian/getty-images-bilder)
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Gewaltige Wassermassen brachen vor Jahrtausenden über Menschen im Nordseeraum ein, Überlebende lieferten sich Gewaltexzesse. Forscher warnen nun, dass uns heute ähnliche Gefahr droht.

Die Menschen von Doggerland waren Nässe gewohnt. Ihre Welt bestand aus einem Netz weitverzweigter Flussarme, die sich durch eine sumpfige Landschaft wanden. Heute liegt dieses einst fruchtbare Paradies unter Wasser, unter der südlichen Nordsee zwischen Großbritannien und Dänemark.

Vor 10.000 Jahren aber hatten die Gletscher der Weichseleiszeit so viel Wasser gebunden, dass sich zwischen Norfolk in England und Esberg in Dänemark eine morastige, grüne Landschaft erstreckte. Das Wasser gab Doggerland Leben. Auf den feuchten Wiesen grasten Hirsche, Auerochsen, Pferde und Wollnashörner. Der Tisch von Doggerland, dafür sorgte das Wasser, war immer reichlich gedeckt.

Tod aus der Tiefe

Doch das Wasser brachte auch den Tod. An einem Tag vor etwa 8.150 Jahren zog es sich zuerst zurück. Es wurde totenstill im Doggerland, dann ertönte in der Ferne ein Grummeln. Lauter und lauter wurde es, als das Wasser zurückkam und mit furchtbarer Gewalt meterhoch über das Land hereinbrach.

Und das Wasser war noch lange nicht fertig mit Doggerland. Die Welle rollte bis tief ins Landesinnere, dann zog es sie zurück ins Meer. So stark war der Sog zurück zum Ursprung, dass sie auf dem Rückweg gnadenlos alles mit sich riss. Wer den ersten Wassereinbruch überlebt hatte, wurde jetzt unweigerlich von den Fluten in die Tiefe gezogen: Bäume und Büsche sowie die Kadaver von Menschen und Tieren.

"Der Tsunami kam nicht nur in einer einzigen Welle", berichtet Richard Bates von der University of Bradford, "sondern brach dreimal über das Land hinein in einem Zeitraum von nur wenigen Stunden." Dabei, so schätzt der Geophysiker, kam bis zu ein Viertel der Bevölkerung ums Leben. Bates hat gemeinsam mit einem Team von Kollegen der Universitäten Bradford, Warwick, St. Andrews und Wales Proben aus Doggerland analysiert und die Ergebnisse in der Fachzeitschrift "Geosciences" veröffentlich. Die Forscher können nun ein ziemlich genaues Bild davon zeichnen, wie dramatisch die Ereignisse tatsächlich waren.

Begonnen hatte die Katastrophe rund 800 Kilometer weiter nördlich vor der Küste Norwegens, bei Storegga, dem Kontinentalabhang im europäischen Nordmeer. Tief liegende Methanvorkommen waren dort in Unruhe geraten und hatten Erdbeben ausgelöst, woraufhin eine Landmasse von etwa 5.600 Kubikkilometern abbrach, in die Tiefe rutschte und einen der größten Tsunamis der Erdgeschichte auslöste. Die Flutwellen, so lautete lange die gängige Lehrmeinung, waren das Ende von Doggerland.

Helgoland ist ein Überrest

Alles, was am Ende übrig blieb, war die große, langgestreckte, stellenweise nur wenige Meter unter der Meeresoberfläche liegende Untiefe an der nordwestlichen Grenze der Deutschen Bucht, die Fischer heute als Doggerbank kennen, sowie die roten Felsen von Helgoland, einst die weithin sichtbare, höchste Erhebung von Doggerland.

Bates und sein Team haben Bohrkerne aus dem Meeresboden vor Norfolk untersucht. Dabei legten sie besonderes Augenmerk auf die Analyse des noch vorhandenen Erbguts aus den Sedimentschichten, die so genannte sedaDNA. Denn auch wenn einzelne Pflanzen oder Tiere in den Schichten längst nicht mehr auszumachen sind, so ist der Boden doch immer noch durchsetzt mit Bruchstücken ihres Erbguts. Über die Radiokarbonmethode ließen sich die organischen Reste gut datieren.

Aus der Zeit vor der Katastrophe fanden die Forscher die DNA von Algen, Muscheln und Krebsen aus den Flußläufen sowie Seegras, Laichkraut, Froschbiss und Aaronstab. Auf den Wiesen blühten Butterblumen, Orchideen, Malven und Astern, dazwischen standen immer wieder kleine Wäldchen.

Tsunami war nicht das Ende

Darüber aber liegt die Tsunami-Schicht. Muschelschalen, die das Wasser aus den Tiefen des Meeres mitbrachte, mischen sich dort mit dem Holz der Bäume, die es entwurzelte und gen Küste spülte – als hätte ein Riese sie alle auf einmal aus der Erde gezogen und achtlos auf den Boden geworfen.

Der Tsunami, den die Storegga-Rutschung ausgelöst hatte, war furchtbar für Doggerland. Aber er war nicht das Ende. Denn über der chaotischen Tsunami-Schicht liegt ein Sedimentband, in dem Flora und Fauna immer noch vorkommen – wenn auch deutlich reduziert. Doggerland war noch nasser geworden. Untergegangen war es jedoch noch nicht ganz.

Für die überlebenden Menschen aber, die sich auf höheres Land hatten retten können, wurde es nun ungemütlich. Das Land hatte seine üppige Fruchtbarkeit verloren. Mit den Bäumen entwurzelt, den Landtieren tot, den Fischen fortgespült zog der Hunger in Doggerland ein.

Kampf ums Überleben

Ausgrabungen sind auf dem Grund der Nordsee nicht möglich. An der Westküste Dänemarks aber, die der Tsunami mit ähnlicher Wucht traf, zeugen Spuren an den Skeletten aus der Zeit nach der Katastrophe von Gewaltexzessen – Verteilungskämpfe um die knapp gewordenen Ressourcen. Und unweigerlich stieg das Wasser weiter. Es sollte nicht mehr lange dauern, bis Doggerland ganz unter den Wellen verschwand.

Die Ereignisse von vor gut 8.000 Jahren bekommen derzeit neue Aktualität. Denn eine Erwärmung der Erde, wie wir sie derzeit beobachten, steigert das Risiko weiterer Methanfreisetzungen. 2012 bebte die Erde vor Norwegen mit einer Stärke von 6,6 auf der Richterskala, 2018 erreichte ein weiteres Beben sogar eine Stärke von 6,8. Jederzeit könnten weitere Teile des Kontinentalabhangs abbrechen und erneut Tsunamis in der Nordsee auslösen.

"Die Ereignisse, die zum Storegga-Tsunami führten, weisen viele Parallelen zur heutigen Zeit auf", mahnt Co-Autor Vince Gaffney von der School of Archaeological and Forensic Sciences an der University of Bradford. "Der Klimawandel ist real und beeinflusst heute schon viele Aspekte der Gesellschaft, besonders in Küstennähe."

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