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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Katastrophe in der Nordsee Der Brexit begann schon vor Jahrtausenden
Seit Urzeiten strebt Großbritannien von Europa weg – zumindest geologisch. Wo sich heute die Nordsee erstreckt, war früher fruchtbares Land. Das Opfer eines schrecklichen Unglücks wurde.
Wenn Sonne, Mond und Erde in einer Geraden stehen, herrscht eine sogenannte Springtide. Dann ziehen die Gezeitenkräfte besonders heftig an den Wassermassen: die Flut wird höher, die Ebbe niedriger. Wenn eine solche Springtide an der Küste Englands herrscht und das Wasser besonders weit zurückfällt, dann tauchen an einigen Küstenabschnitten versunkene Wälder aus dem Meer – Flächen voller Baumstümpfe, die aus dem schwarzen Schlick aufragen. "Noah's Wälder" nannten die Briten früher diese mysteriösen Landschaften, in der Meinung, es handele sich um Überbleibsel der Welt vor der Sintflut.
Es ist gefährlich, dort hinzugehen, weil das Wasser rasch zurückkehrt und die Wälder wieder für sich beansprucht. Doch wer schnell ist, findet vielleicht Knochen von Bär, Biber oder Wolf. Spätestens jetzt wird klar, dass ein Spaziergang in diesen Wäldern tatsächlich ein Ausflug in vergangene Zeiten ist. Denn Bären gibt es in England seit 1.000 Jahren nicht mehr, der Biber starb vor 800 Jahren aus. Und der letzte englische Wolf siedelte im Jahr 1743 nach der Bekanntschaft mit der Flinte eines Jägers in die ewigen Jagdgründe über.
Ein Schlaraffenland für Mensch und Tier
Noah's Wälder stammen zwar nicht aus der Zeit vor der Sintflut. Aber sie sind eine Erinnerung daran, dass Großbritannien einst viel größer war als heute. Genauer genommen war es damals nicht Großbritannien, sondern eine Halbinsel des europäischen Kontinents. Zwischen den heutigen Küsten Englands, der Niederlande, Deutschlands und Dänemarks lag vor 10.000 Jahren ein fruchtbares Paradies.
Wo heute die Nordsee schwappt, strichen Wildschwein, Wolf und Hyäne durch dichtes Gestrüpp. Bären stapften durch Wälder von Birken, Kiefern, Espen, Ulmen, Eichen und Linden. Auf feuchten Wiesen grasten Hirsche, Auerochsen, Pferde und Wollnashörner. Biber stauten kleine Flussläufe mit ihren Dämmen zu Seen auf, im Schilf der Uferregionen brüteten zahlreiche Wasservögel. Und ab und zu zog eine Gruppe Menschen vorbei, satt vom üppigen Nahrungsangebot und zufrieden mit dem, was die Landschaft alles zu bieten hatte.
Immer wieder kommt es vor, dass Reste dieser Welt in den Netzen der Fischer hängen bleiben. So wie 1931 im Schleppnetz von Pilgrim Lockwood. Als der britische Fischtrawlerkapitän in einem Torfklumpen herumprökelte, der im Netz festhing, hielt er plötzlich eine 21,6 Zentimeter lange Geweihspitze mit einer seitlichen Reihe von Einkerbungen, die wie Widerhaken aussahen, in der Hand.
Fund aus der Vergangenheit
Lockwood hatte eine Harpunenspitze gefunden, mit der die Bewohner dieses Paradieses auf Jagd gegangen waren – vor 11.740 Jahren, wie eine Radiokarbon-Datierung (C14) ergab. 1988 machte der niederländische Fischer Aart Wolters eine ähnlich spektakuläre Entdeckung. In seinem Netz hatte sich ein Scheibenbeil aus der Mittleren Steinzeit verfangen. Alter: zwischen 12.000 und 6.000 Jahren.
Das fruchtbare Gebiet entstand, als während der Weichseleiszeit gigantische Wassermengen in den Gletschern gebunden und so dem Meer entzogen waren. Selbst als es gegen Ende der Eiszeit in Europa begann, wärmer und gemütlicher zu werden, lag der Meeresspiegel immer noch 60 Meter tiefer als heute – und gab so den heutigen Grund der Nordsee frei. Doggerland hieß dieses Paradies, benannt nach der Doggerbank, einer großen, langgestreckten, stellenweise nur wenige Meter unter der Meeresoberfläche liegenden Untiefe an der nordwestlichen Grenze der Deutschen Bucht. Damals war die Doggerbank ein weithin sichtbarer Geländerücken.
Sie ist nicht das einzige bekannte Landschaftsmerkmal Doggerlands. Der Landschaftsarchäologe Vincent Gaffney von der Universität Birmingham hat gemeinsam mit Kollegen das Forschungsprojekt "Mapping Doggerland" ins Leben gerufen, das sich zum Ziel gesetzt hat, das versunkene Land zu kartieren. Dafür gingen die Forscher zunächst eine ungewöhnliche Allianz ein.
Kartierung des verlorenen Paradieses
Die Firma Petroleum Geo Services (PGS) schenkte ihnen ein Datenpaket von Bodenuntersuchungen von über 6.000 Quadratkilometern aus über 60 verschiedenen Surveys, bei denen der Meeresgrund auf Tauglichkeit für Ölbohrungen untersucht worden war. Anfangs glaubte niemand daran, dass die Daten den Archäologen irgendetwas nützen würden. Doch als Gaffneys Team erste Flusstäler und Seen auf dem Meeresgrund sichtbar machen konnte, legte PGS noch einmal 17.000 Quadratkilometer Nordseegrund dazu.
Heute ist Doggerland recht gut kartiert. Der erste Fluss, der über die Computerbildschirme der Birminghamer Forscher mäanderte, war allein schon so groß wie heute der Rhein. Das Team gab ihm den Namen River Shotton – benannt Fred Shotton, einem zu Lebzeiten sehr beliebten Professor für Geologie an der Uni. Und ein alter Kriegsheld: Im Zweiten Weltkrieg hatte Shotton sich zu den Stränden der Normandie durchgeschlagen und geeignete Stellen für die Landung der alliierten Truppen am D-Day ausgekundschaftet.
Südlich der Doggerbank lag der Outer Silver Pit, ein riesiger Binnensee mit 1.700 Quadratkilometer Wasserfläche und dazu noch einmal 300 Quadratkilometer Salzwiesen. Noch heute ist er als Tal auf dem Grund der Nordsee erkennbar. Darüber hinaus erhob sich ein gigantischer roter Sandsteinfelsen aus der Ebene, ähnlich dem Ayers Rock in Australien. Seine Spitze ragt heute noch über die Wasseroberfläche und ist mit dem Katamaran von Hamburg aus in knapp vier Stunden zu erreichen: Helgoland.
Katastrophe in der Steinzeit
Vor rund 8.400 Jahren begann es dann ungemütlich zu werden in Doggerland. Der Meeresspiegel stieg langsam, aber kontinuierlich. Dann ergoss in Nordamerika ein gigantischer Gletschersee, der Lake Agassiz, riesige Wassermengen in die Hudson Bay. Das Eiswasser hob den Meeresspiegel sprunghaft um etwa einen halben Meter und bremste die Warmwasserströmung im Nordatlantik. Eisige Winde peitschen nun an die Küsten Doggerlands, immer größere Küstenflächen tauchten nach Sturmfluten nicht mehr aus dem Wasser auf.
Der Todesstoß kam an einem Spätherbsttag vor 8.200 Jahren. Auf dem Meeresboden vor Norwegen rutschten auf einer Länge von mehreren Hundert Kilometern rund 3.000 Kubikkilometer Schlamm aus der Flachwasserzone die steilen Unterseehänge hinab. Dieses so genannte Storegga-Ereignis löste einen Tsunami aus. Als die Wellen Doggerland erreichten, türmten sie sich immer noch fünf bis zehn Meter hoch und löschten in weiten Landstrichen alles Leben aus. Danach war Doggerland weitgehend unbewohnbar – für immer.
Die Pegel steigen
In den Jahrhunderten, in denen Doggerland zunehmend im Meer versank, stieg der Meeresspiegel aufgrund der Gletscherschmelze etwa in dem Maße, wie er es auch heute tut. Allerdings ziehen die Menschen heute nicht mehr wie in der Mittleren Steinzeit als Jäger und Sammler durch die Lande und können so ausweichen, wenn die Küste nach und nach verloren geht. Stattdessen siedeln sie unverrückbar in Metropolen – die meist in Küstennähe liegen.
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Die Deiche werden zwar höher und höher, doch wie lange sie den steigenden Wassermassen noch Stand halten können, bleibt fraglich. Bei der derzeitigen Geschwindigkeit der Klimaerwärmung werden sich in 8.000 Jahren unweigerlich die Fischernetze gelegentlich am Turm des Hamburger Michel oder am Dachgebälk des Big Ben oder von St. Pauls Cathedral verheddern.
- Eigene Recherchen