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"Sonderkommando" in Auschwitz: "Der dritte reißt den Frauen die Ohrringe aus"


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"Sonderkommando" in Auschwitz
"Der dritte reißt den Frauen die Ohrringe aus, manchmal strömt Blut"


Aktualisiert am 27.01.2021Lesedauer: 6 Min.
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"Wir sahen zu, wie unsere Liebsten verbrannt wurden": Historische Aufnahmen aus Auschwitz und wie das Konzentrationslager heute aussieht. (Quelle: t-online)
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Sie leerten die Gaskammern und verbrannten die Toten: Die Sklavenarbeiter des "Sonderkommandos" waren dem Grauen in Auschwitz so nahe wie niemand sonst. Einige hinterließen uns Botschaften.

Mehrere Männer sind am 5. März 1945 auf dem Gelände von Auschwitz-Birkenau unterwegs. Zwei von ihnen sind sowjetische Offiziere, ein anderer ist Shlomo Dragon, ein Überlebender des Mordkomplexes. Erst am 27. Januar des Jahres hatte die Rote Armee Auschwitz befreit. Ihr Ziel sind die Ruinen des Krematoriums III. In einer der nahen Aschegruben fängt Dragon an zu graben – und wird fündig. Eine "Feldflasche aus Aluminium, mit breitem Hals, deutschen Typs", so verzeichnet es das Protokoll, ist zum Vorschein gekommen. Darin enthalten: ein kleines Notizbuch und ein Brief.

Es ist die Botschaft eines Toten. Salmen Gradowski, um 1908 im polnischen Suwałki geboren, hieß der Mann, der die Feldflasche samt Inhalt unter Lebensgefahr versteckt hatte. Sein Todestag war der 7. Oktober 1944, der fünfte Tag des jüdischen Laubhüttenfestes in diesem Jahr. Und der Tag, als sich Männer des sogenanntes jüdischen Sonderkommandos in Auschwitz-Birkenau gegen die SS erhoben. Gradowski, ein Mitglied dieser Arbeitseinheit, wurde während der Kämpfe erschossen.

Allerdings nicht, ohne mehrere Nachrichten für die Nachwelt hinterlassen zu haben, wie eben in der entdeckten Feldflasche. "Möge die Welt in ihnen einen Tropfen, ein Minimum jener schrecklichen, tragischen Todeswelt erkennen, in der wir lebten", dies wünschte sich Gradowski.

Grausam, selbst für Auschwitz

Denn wenn Auschwitz die Hölle war, befanden sich die Männer des Sonderkommandos in ihrem Zentrum. Sie brachten die Ermordeten nach deren Vergasung aus den Gaskammern, brachen ihnen etwa das Zahngold aus den Gebissen und verbrannten die Leichen. Dabei waren sie selbst Häftlinge, die von der SS vor eine grausame Wahl gestellt worden waren: entweder der SS bei ihrem Mordwerk zu helfen und (etwas) länger zu leben, oder selbst zu sterben.

Wobei das Wort Wahl grundsätzlich falsch ist unter den Bedingungen in Auschwitz. Der jüdische Häftling Lejb Langfus etwa meldete sich im Dezember 1942 zur Arbeit in einer Fabrik. So jedenfalls behauptete es ein SS-Mann. In Wirklichkeit wurde Langfus für das neu gebildete Sonderkommando ausgewählt. Mitsamt rund 300 weiteren Häftlingen. Ihre Vorgänger waren gerade erst ermordet worden, ihre Körper schwelten im Krematorium. Hauptscharführer Otto Moll, selbst in Auschwitz für seine Brutalität berüchtigt, wies das neue Sonderkommando in seine Aufgabe ein. Bei Weigerung drohte er mit Gewalt.

"Wir reißen die Körper von dem toten Haufen los, zerren sie an den Händen, an den Beinen, wie es gerade passt", so schilderte etwa Salmen Gradowski die Aufgabe des Sonderkommandos, wenn sich die Türen zu den Gaskammern öffneten. "Drei Männer bearbeiten eine Leiche", fuhr er fort. "Einer zieht mit einer Zange die Goldzähne, ein anderer schert den Kopf, der dritte reißt den Frauen die Ohrringe aus, manchmal strömt Blut aus den Ohrläppchen. Kann ein Ring nicht abgenommen werden, wird er mit einer Zange abgerissen."

Dem folgte der Transport zu den Öfen. Es sind schwer zu ertragende Szenen, die Gradowski überlieferte. "Erst fangen die Haare Feuer. Dann entstehen Blasen auf der Haut, die aufplatzen. Die Arme und Beine fangen an zu zucken", notierte der Angehörige des Sonderkommandos. "Das ganze Verfahren dauert 20 Minuten, danach bleibt vom Körper, einer Welt, nur Asche übrig. Währenddessen stehst du regungslos da und schaust dir das an."

Zeugnisse des Grauens

Die überlieferten Aufzeichnungen von Angehörigen des jüdischen Sonderkommandos aus Auschwitz-Birkenau sind so eine wichtige Quelle für den Ablauf des Holocaust in Auschwitz. Eine Quelle, soweit erhalten, die anders als die Erinnerungen von Zeitzeugen unbeeinträchtigt von Zeit und Gedächtnis das Grauen in Auschwitz schildert. Und eine Mahnung darstellt für das, was Menschen Menschen antun können.

Neun solcher Zeugnisse des jüdischen Sonderkommandos wurden im Laufe der Zeit in Auschwitz-Birkenau entdeckt. Fünf Männer des Sonderkommandos waren die Verfasser: Salmen Gradowski (er hinterließ mehrere Aufzeichnungen), Lejb Langfus, Salmen Lewenthal, Chaim Herman und Marcel Nadjari, dessen 1980 entdeckte und stark verwitterte Aufzeichnungen erst in jüngster Zeit mittels Multispektralanalyse erschlossen werden konnten. Der Historiker Pavel Polian hat die beeindruckenden wie erschütternden Zeugnisse vor Kurzem in einem Buch mit dem treffenden Titel "Briefe aus der Hölle" veröffentlicht.

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Denn die Männer des Sonderkommandos arbeiteten im Inferno, ihre Tätigkeiten zerstörten die Seele. Wie gingen diese Männer damit um? Gradowski versuchte eine Antwort: "Es ist notwendig, dass das Herz zu Stein wird. Man muss die ganzen schmerzhaften Gefühle ersticken, man muss die entsetzliche Qual unterdrücken, die dich wie eine Flut ergreift. Du musst zu einer Maschine werden, die nichts sieht, nichts empfindet, nichts begreift."

Meiner Familie, die in Birkenau-Auschwitz verbrannt wurde

Nichts empfinden? Gradowski, ein kluger und sensibler, ein literarisch veranlagter Mensch, konnte dies selbst nicht einlösen. Nicht angesichts der Verluste, die er selbst erlitten hatte. Sein im Boden des Vernichtungslagers verstecktes Vermächtnis sollte auch an seine eigene Familie erinnern:

"Gewidmet meiner Familie, die in Birkenau-Auschwitz verbrannt wurde.
Meiner Frau Sonia
Meiner Mutter Sara
Meiner Schwester Ester Rachel
Meiner (Schwester) Liba
Meinem Schwiegervater Rafael
Meinem Schwager Wolf"

Als Gradowski mit seinen Verwandten am 8. Dezember 1942 mit dem Zug nach Auschwitz deportiert worden war, begann die SS mit der Selektion. Mitsamt 230 anderen Männern kam Gradowski ins Lager, der Rest der Menschen wurde vergast. Darunter seine Angehörigen.

Opfer und Helfer der SS zugleich waren sich die Männer des Sonderkommandos bewusst, dass sie im Lager eine besondere Rolle spielten. Sie wurden beneidet ob ihrer Privilegien, etwa in Form von besserem Essen. Sie wurden gefürchtet, weil viele Häftlinge in Auschwitz ahnten, welche Rolle das Sonderkommando bei den Vergasungen spielte. Und sie wurden gehasst wegen eben dieser Aufgabe, so etwa von den zum Tode Bestimmten.

"Nur um selbst am Leben zu bleiben?"

"‘Geh weg, du Judenmörder!‘", schilderte etwa Lejb Langfus, wie ein zum Tode bestimmtes Mädchen ein Mitglied des Sonderkommandos anschrie. "'Du bist doch selber Jude! Wie kannst du nur diese lieben Kinder zur Vergasung führen, nur um selbst am Leben zu bleiben?'", fragte wiederum ein Junge, der nur noch kurze Zeit zu leben hatte.

Denn die Männer des Sonderkommandos waren auch zugegen, wenn die Todgeweihten an den Gaskammern ankamen. Die natürlich nicht als solche bezeichnet wurden, um die Opfer nicht vorzeitig in Panik zu versetzen. Sollten sie die Menschen warnen? Wohl wissend, dass die SS jeden Widerstand brechen würde? Und ebenso in der Gewissheit, dass dies mit hoher Wahrscheinlichkeit ihr eigenes Todesurteil bedeuten würde? 1943 etwa verbrannten SS-Leute einen Mann des Sonderkommandos bei lebendigem Leib. Sein "Vergehen": Er hatte einer Frau verraten, dass sie gleich umgebracht werden würde.

So betäubten sich die Männer des Sonderkommandos mit Alkohol und Essen; es war "Sitte", dass sie Derartiges, wenn sie die Habseligkeiten der Toten sortierten, behalten durften. Im Bewusstsein, dass die Nachwelt ein hartes Urteil über sie fällen würde. So lebten die Männer zwischen Depression und Trauer, Abgestumpftheit und Hoffnung auf ein Ende. Denn ein Überleben der Angehörigen des Sonderkommandos war mehr als unwahrscheinlich. Die SS pflegte unliebsame Zeugen zu beseitigen.

"Dass sie uns in den Tod führen werden"

"Wir, das Sonderkommando, wollten unserer schrecklichen Arbeit,
die uns unter Androhung des Todes aufgezwungen wurde,
seit Langem schon ein Ende setzen", hatte Salmen Gradowski in seinen Aufzeichnungen prophezeit. Am 7. Oktober 1944 war es so weit. An diesem Tag traten rund 300 Männer des Sonderkommandos auf Befehl der SS beim Krematorium IV an, dann geschah das Unmögliche. Chaim Neuhoff, polnischer Jude und seit langer Zeit in Auschwitz, griff einen SS-Mann mit seinem Hammer an. Steine, Beile, Eisenstangen, mit allem was sie finden konnten, drängten die Aufständischen die überraschte SS zurück.

Bald stieg Rauch in den Himmel empor, das Krematorium IV brannte, angesteckt vom Sonderkommando. Lange hatte es schon Pläne zum Aufstand gegeben, weibliche Häftlinge hatten Sprengstoff ins Lager geschmuggelt, andere hatten Waffen und Ähnliches zu sammeln versucht. Doch die eher spontan ausgebrochene Rebellion, an der nicht alle Angehörigen des Sonderkommandos beteiligt waren, hatte von Anfang an keine Chance auf Erfolg. Mann für Mann wurde getötet, auch nach der eigentlichen Niederschlagung hielt die Mördertruppe ihr Strafgericht ab. Lejb Langfus brachte die SS im November 1944 um. Er hatte sein Schicksal geahnt: "Wir sind sicher, dass sie uns in den Tod führen werden."

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"Ich wollte und will leben"

Von den fünf Verfassern des Sonderkommandos, die ihre Aufzeichnungen in der Erde von Auschwitz-Birkenau verbargen, überlebte nur Marcel Nadjari, 1917 in Thessaloniki geboren, die "Fabrik" des Todes. Auch er stellte darin die Frage: "Wie konnte ich (...) oder irgendjemand anders diese Arbeit machen und die Glaubensgenossen verbrennen?"

Es war der Wunsch nach Rache an den Mördern, der Nadjari weitermachen ließ: "Ich wollte und will leben, um den Tod von Papa und Mama zu rächen, und meiner geliebten kleinen Schwester Nelli." Sein erster Wunsch ging in Erfüllung, er überlebte mit nur etwa 100 anderen Angehörigen des Sonderkommandos. Bis zu seinem Tod verfolgten ihn Albträume.

"Nur die Deutschen töteten. Wir wurden gezwungen, mitzumachen", appellierte Shlomo Venezia, ein anderer Überlebender des Sonderkommandos, später. "Alle, die sich weigerten, wurden sofort durch Nackenschuss getötet. Für die Deutschen war das nicht schlimm. Sie brachten zehn um, und fünfzig Neue kamen."

Verwendete Quellen
  • Pavel Polian: Briefe aus der Hölle. Aufzeichnungen des jüdischen Sonderkommandos Auschwitz, 2019
  • Nikolaus Wachsmann: KL. Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager, 2015
  • Susanne Willems: Auschwitz. Geschichte des Vernichtungslagers, 2. Auflage 2017
  • Andrew Rawson: Auschwitz. The Nazi Solution, 2015
  • Karin Orth: Das System der nationalsozialistischen Konzentrationslager, 1999
  • Danuta Czech: Kalendarium der Ereignisse im Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau 1939-1945, 1989
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