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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Russische Truppen in Bedrängnis Putin stellt ein Ultimatum
Putins Armee scheint auf dem Rückzug zu sein. Russische Militärblogger schlagen bereits Alarm. Verteidigungsminister Schoigu soll ein Ultimatum erhalten haben.
Die Nachricht löste unter Beobachtern Staunen aus: Der ukrainische General Olexander Tarnawskyj meldete am vergangenen Wochenende einen Vorstoß seiner Truppen in die Ortschaft Werbowe. Bemerkenswert war dies, weil Werbowe zu jenen von den russischen Besatzern schwer gesicherten Ortschaften zählte, die durch die berüchtigte Surowikin-Linie geschützt gewesen war.
Nun soll den Ukrainern jedoch der Durchbruch dieser Verteidigungslinie im Süden der Oblast Saporischschja gelungen sein – und damit ein weiterer, wichtiger Fortschritt im Rahmen ihrer seit Juni laufenden Gegenoffensive. Der Kommandeur der ukrainischen Truppen in diesem Abschnitt, Brigadegeneral Tarnawskyj, sprach in einem Interview des US-Senders CNN von einem Durchbruch.
Sollte sich das bewahrheiten, wäre dies eine der erfolgreichsten Wochen seit dem Beginn der ukrainischen Gegenoffensive. Offenbar gelingt es den Truppen Kiews immer besser, die dreireihigen Verteidigungslinien aus Minenfeldern, Panzerabwehrgräben und Artilleriestellungen zu bekämpfen. In der flachen Steppe sind die russischen Stellungen oft in langen Baumreihen versteckt. "Wir bewegen uns von Baumreihe zu Baumreihe vor, manchmal 50 bis 100 Meter pro Tag, manchmal 300 bis 400 Meter", sagte ein Armee-Pressesprecher im ukrainischen Fernsehen.
Bei Werbowe konnten die ukrainischen Spezialkräfte nach Angaben von Militärbloggern die Minengassen verbreitern, also jene Fläche, die von feindlichen Sprengsätzen geräumt wurde und nun passierbar ist. Dort schleusen sie immer mehr mechanisierte Kräfte durch, die dann auch die russischen Truppen in der Ortschaft selbst unter Beschuss nehmen.
Wichtigstes Etappenziel ist die Stadt Mala Tokmatschka
Die linke Flanke (von Norden, von Kiew aus gesehen) ist Teil eines Keils, den die ukrainischen Truppen von Oritschiw aus in Richtung Süden getrieben haben. Sie sollen nur noch rund 20 Kilometer von der strategisch bedeutenden Stadt Mala Tokmatschka entfernt sein. Der Keil, in dem sich die ukrainischen Truppen eingerichtet haben, reicht laut Angaben der amerikanischen Denkfrabrik Institute for the Study of War (ISW) derzeit bis zum Ort Novoprokopiwka (Stand: Sonntag, 24.09.23).
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Die russische Generalität zieht laut Militärbloggern immer mehr Eliteeinheiten in die Region, um die ukrainischen Vorstöße zu unterbinden und zurückzuschlagen. "Auf der linken Flanke haben wir einen Durchbruch und dort machen wir jetzt weiter und rücken vor", sagte General Tarnawskyj am Freitag im Interview mit CNN. "Wir dürfen jetzt nicht die Initiative verlieren", mahnte er. Und das taten die Soldaten Kiews auch nicht. Am Wochenende wurden heftige Gefechte aus der Region gemeldet. Besonders um die Ortschaften Kopani, Novoprokopiwka und nach wie vor in und um Werbowe tobt der Krieg unvermindert.
Schafft es die ukrainische Armee noch vor Beginn der Regenfälle im Herbst, die den Boden aufweichen und ein Vorrücken erschweren, tatsächlich bis Mala Tokmatschka, wäre dies ein großer Erfolg für die Ukraine und ein schwerer Rückschlag für das Regime von Diktator Wladimir Putin. Doch dafür bleiben nur noch wenige Wochen Zeit. Allerdings zeigen sich mancherorts offenbar erhebliche Defizite in Sachen Kampfmoral unter den russischen Kräften.
Elitesoldat wirft Putins Regime Vertuschung vor
So soll die Hälfte der einstigen Eliteeinheiten, die Putins Generäle zur Verteidigung der Südfront abgestellt haben, aus jüngst Mobilisierten mit sehr wenig Kampferfahrung bestehen. Militärblogger berichten davon, dass die russische Armee inzwischen jeden verfügbaren Soldaten aus Mala Tokmatschka abzöge, um ihn zur Verteidigung der Front bei Werbowe einzusetzen, darunter auch Mechaniker und Köche. Auch wenn sich die Angaben bislang nicht unabhängig überprüfen ließen, so scheint es um den Zustand von Putins Truppen an diesem Frontabschnitt nicht zum Besten zu stehen.
Und noch an einer anderen Front geraten Russlands Besatzer wohl ins Hintertreffen: In Bachmut konnte die Ukraine in den vergangenen Tagen ebenfalls Geländegewinne erzielen. Durch die schweren Kämpfe im Donbass werden zudem weiterhin einige der besten Einheiten Putins gebunden und können nicht im Süden eingesetzt werden.
Wie ein Mitglied einer russischen Fallschirmjägereinheit am Wochenende in russischen Kanälen schrieb, soll die russische Militärführung zudem die ukrainischen Vorstöße vertuschen. Der Kreml äußerte sich bisher offiziell nicht dazu, im staatlichen Fernsehen wird der Ukraine-Krieg nach wie vor als voller Erfolg gefeiert. "Wie lange will Schoigu den Durchbruch bei Werbowe eigentlich noch verheimlichen?", fragte der Elitesoldat laut ISW daher.
Putins Verteidigungsminister steht also auch nach der Entmachtung und mutmaßlichen Ermordung Jewgeni Prigoschins im Fokus der russischen Militärexperten. Sie kritisieren sein Vorgehen und bezweifeln seine Expertise.
Putin soll Schoigu eine Frist bis Anfang Oktober gesetzt haben, um die Lage an der Front – aus russischer Sicht – zu verbessern, berichtet das ISW unter Berufung auf einen Kreml-Insider. Dazu gehöre auch eine Offensive auf eine größere ukrainische Stadt. Das ISW analysiert, dass dies zu unerbittlichen und sinnlosen Angriffen der Russen führen könnte, nur um die Gunst Putins zu behalten.
- understandingwar.org: "Russian Offensive Campaign Assessment, September 24, 2023" (englisch)
- cnn.com: "Ukrainian forces have broken through in Verbove, top general says" (englisch)
- washingtonpost.com: "Ukraine breaches Russian defensive line on southern front" (englisch)
- topcargo.com: "Andrei Kondrashkin" (englisch)
- newsweek.com: "Ukraine Just Had Its Best Week Since Counteroffensive Began" (englisch)
- Mit Material der Nachrichtenagentur dpa