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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Ukrainische Gegenoffensive "Ich vermute, es wird keine Schwachstellen geben"
Seit drei Wochen läuft die ukrainische Gegenoffensive im russischen Angriffskrieg – bisher ohne nennenswerte Erfolge. Militärexperte Wolfgang Richter gibt einen Ausblick.
Lange hat die ukrainische Militärführung eine Gegenoffensive angekündigt, vor drei Wochen ging es dann los. Großflächige Gebietsrückgewinnungen waren Ziel der Operation, aber bisher sind keine nennenswerten Erfolge zu verzeichnen.
Doch während sich die Frontlinien in der Ukraine kaum verschieben, gibt es einen Ort, der mit Sorge beobachtet wird: Die Gefechte rund um das Kernkraftwerk in Saporischschja könnten zu einer nuklearen Katastrophe führen.
Beide Kriegsparteien werfen sich gegenseitig vor, Interessen an einer Eskalation in Saporischschja zu haben – doch welche könnten das sein und wie realistisch ist ein Nuklearanschlag wirklich?
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"Sie testen immer noch aus, wo mögliche Schwachstellen der Russen sind. Gefunden haben sie sie bisher nicht. Ich vermute auch, es wird kaum welche geben."
Monatelang hatte die ukrainische Militärführung eine Gegenoffensive im russischen Angriffskrieg angekündigt. Vor drei Wochen ging sie los - doch Beobachter erkennen bislang keine nennenswerten Erfolge. Ist der Plan gescheitert?
Wolfgang Richter ist Oberst a.D. und Militärexperte. Im Gespräch mit t-online zeigt er die Lage in der Ukraine auf. Und er erklärt, welche Rolle das Kernkraftwerk in Saporischschja bei dem Bestreben der Ukraine spielt, der Nato beizutreten.
Besonders besorgt blickt die Welt zurzeit auf die Gefechte rund um das AKW in Saporischschja. Ein Nuklearanschlag hätte verheerende Folgen für Millionen Menschen. Doch welche Kriegspartei könnte diesen tatsächlich verüben? Die Russen?
"Das wäre ja völlig widersinnig, es würde die russischen Truppen selbst gefährden, die ja offenbar noch mehr vorhaben. Es würde auch die Bevölkerung verstrahlen, die man jetzt als russisch ansieht – jedenfalls nach der offiziellen Verfassungslage in Moskau. Natürlich wird das vom Westen und der Ukraine bestritten. Aber ich spreche ja jetzt für die Logik, ein solches Unternehmen zu beginnen, also ein Kernkraftwerk in die Luft zu sprengen, was überhaupt keinen Sinn macht."
Die russische Seite wirft jedoch der Ukraine ein Interesse an der Eskalation vor.
"Eine Katastrophe auszulösen, die man dann anschließend Russland unterstellt – dass sie die Auslöser gewesen sein – um dann die Nato in den Krieg hineinzuziehen. Aber es wäre andererseits natürlich ein Mittel der Verzweiflung, um die Nato am Ende doch noch so zu positionieren, dass sie tatsächlich Partei für die Ukraine eingreift, was natürlich für ganz Europa eine Katastrophe wäre. Insofern ist das ein Spiel mit dem Feuer. Aber ich halte das, zumindest im Moment, für übertrieben von beiden Seiten. Ich glaube, das ist kein realistisches Szenario. Ich sehe auch keine Anzeichen vor Ort."
Doch auch wenn das Kraftwerk nicht absichtlich beschädigt wird - eine reale Gefahr besteht doch.
"Die wirkliche Gefahr für das Kernkraftwerk ist, dass dort Kämpfe entstehen und unabsichtlich zum Beispiel Artilleriemunition dieses Kernkraftwerk trifft, das hat es in der Vergangenheit schon gegeben. Zum Glück sind keine Reaktoren getroffen worden, aber doch die Peripherie, bestimmte technische Anlagen außen herum, Geräte, Häuser und dergleichen. Und solche Szenarien würde ich jetzt für die Zukunft nicht ganz ausschließen."
Abseits der Gefechte in Saporischschja sind vor allem der Osten und der Süden der Ukraine weiter schwer umkämpft. Doch während die Gegenoffensive der ukrainischen Einheiten zunächst schnelle Gebietsrückgewinnungen in Aussicht stellte, sieht die Realität ganz anders aus.
"Also man spricht ja, wenn man der stellvertretenden Verteidigungsministerin zuhört, von Raumgewinnen, die sich zwischen 1.000 und 3.000 Metern abspielen mit Varianten. Und das ist nicht mehr als die Entfernung zwischen den sogenannten vorgeschobenen Stellungen und der Hauptverteidigungslinie. Die Zwischenräume können eins bis drei Kilometer betragen. Und das ist das, was die Ukrainer jetzt als Raumgewinne angeben. Das heißt, sie haben vielleicht an bestimmten Stellen die Verteidigungslinie erreicht, aber noch lange nicht angeknackst, geschweige denn durchbrochen oder irgendwelche Stöße in die Tiefe geführt. Ja, sie testen immer noch aus, wo mögliche schwache Stellen der Russen sind. Gefunden haben sie sie bisher nicht. Ich vermute auch, es wird kaum welche geben."
Ist die ukrainische Gegenoffensive also schon jetzt gescheitert?
"Wir haben wieder das Verzetteln im taktischen Klein-Klein gesehen. Eine größere Offensive, eine Durchbruchsoffensive hat es nicht gegeben. Nun kann man natürlich sagen: die testen noch, sie gucken, wo das möglich ist und behalten sich das vor und werden dann die strategische Reserve einsetzen – Zweidrittel davon gibt es ja wahrscheinlich noch – wenn die Zeit dafür reif ist. In der Zwischenzeit, so wird ja auch berichtet, hätten Sie sich auf eine Abnutzungsstrategie verständigt. Ob das am Ende zum Erfolg führt, wage ich dennoch zu bezweifeln. Einfach deswegen, weil die Russen exzellent auf die Verteidigung vorbereitet sind – mit tiefen Stellungen, sehr befestigten Stellungen und weil sie mittlerweile über weitaus mehr Truppen verfügen als zu Beginn des Krieges. Und der Druck, dann zu verhandeln, wird steigen, weil man sich die Frage stellen muss: wofür kämpft man denn, wenn das große politische Ziel nicht erreichbar ist, sondern es nur noch um die Zeit geht, die man durchhält und dabei Zigtausende von Toten zu verzeichnen sind. Dann wird es irgendwann mal auch einen neuen Druck geben, tatsächlich Verhandlungen zu versuchen."
Präsident Selenskij zeigte sich in einem Interview kürzlich selbstkritisch: Die Gegenoffensive hätte früher starten sollen. Ob sie jetzt noch ihre gewünschten Erfolge erzielen kann, ist fraglich.
Oberst a. D. und Militärexperte Wolfgang Richter ordnet die Lage in der Ukraine vor der t-online-Kamera ein – hier oder oben im Video.
- Eigenes Interview mit Wolfgang Richter am 05.07.2023
- Videomaterial der Nachrichtenagentur Reuters