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Visa-Stopp für Russen: Daran scheiden sich die Geister


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Diskussion um Visa-Stopp
Putin, der lachende Dritte?


Aktualisiert am 30.08.2022Lesedauer: 6 Min.
Wladimir Putin: Der Kreml hat im Falle eines Visa-Stopps mit Gegenmaßnahmen gedroht.Vergrößern des Bildes
Wladimir Putin: Der Kreml hat im Falle eines Visa-Stopps mit Gegenmaßnahmen gedroht. (Quelle: IMAGO/Mikhail Klimentyev/Kremlin Pool)

Als russischer Staatsbürger kann man einen blutigen Angriffskrieg unterstützen und weiter in Mailand shoppen gehen – noch. Kommt der EU-Einreisestopp für Russen?

Russische Staatsbürger, die in der EU urlauben oder ausgiebige Einkaufstouren genießen, während ihr Land einen brutalen Krieg in der Ukraine führt? Das ist die Realität.

Soll das auch weiterhin möglich sein? Oder soll man alle Russinnen und Russen für den Angriffskrieg gegen die Ukraine kollektiv bestrafen – ohne deren Haltung dazu im Einzelfall zu kennen? Daran scheiden sich die Geister: Am Dienstag und Mittwoch treffen sich die EU-Außenminister in Prag, um darüber zu beraten, ob keine Visa mehr an russische Bürgerinnen und Bürger vergeben werden sollen.

Diese Frage droht derzeit, die EU zu spalten. Einige Länder sind bereits vorgeprescht. Andere – darunter Deutschland – lehnen einen solchen Visa-Bann ab. Wie realistisch ist der Vorschlag? Was könnte er bringen? Hilft er am Ende sogar Putin? Ein Überblick.

Wer einen Visa-Bann fordert

Für Wolodymyr Selenskyj ist es klar: Die Russen "sollten in ihrer eigenen Welt leben, bis sie ihre Philosophie ändern", sagt der ukrainische Präsident. Sein Land muss seit rund einem halben Jahr einen brutalen Angriffskrieg Russlands abwehren. Der ukrainische Außenminister wird ebenfalls deutlich: Den Russen "muss das Recht entzogen werden, internationale Grenzen zu überschreiten, bis sie lernen, diese zu respektieren", sagt Dmytro Kuleba.

Kiews Forderung nach einem EU-Einreiseverbot für Russen hat den Staatenverbund aufgescheucht: Einige Mitgliedsländer, vor allem nordeuropäische und das Baltikum, haben diese aufgegriffen. Direkt nach dem Beginn der russischen Invasion hat die EU bereits zahlreiche Sanktionen und Einreiseverbote gegen Personen, die dem Kreml nahestehen, etwa Diplomaten und Unternehmenschefs, verhängt. Das reiche nicht, argumentiert nun dieser Block – die Reiseeinschränkung solle für alle Russen gelten, auch für Touristen.

"Europa zu besuchen ist kein Menschenrecht"

Russen sollten kein "normales Leben" führen und Europa als Touristen besuchen dürfen, während Russland Krieg führt, erklärte die finnische Ministerpräsidentin Sanna Marin, deren Land eine lange Grenze mit Russland teilt, Anfang August im staatlichen Rundfunk. Seit dem Beginn der russischen Invasion gibt es keine Flugverbindungen aus Russland in die EU mehr. Wenn Menschen direkt aus Russland einreisen, geschieht dies auf dem Landweg. "Europa zu besuchen ist ein Privileg, kein Menschenrecht", twitterte ihre Amtskollegin aus Estland, Kaja Kallas, deren Staat ebenfalls eine Landgrenze mit Russland hat.

In Estland schafft man bereits Fakten: Die dortigen Behörden lassen nicht mal mehr russische Staatsbürger einreisen, die bereits ein Visum erhalten haben. Finnland kündigte an, die Zahl der Touristenvisa um 90 Prozent zu reduzieren – auf 100 Stück pro Tag. Ein generelles Verbot aufgrund der Herkunft eines Antragstellers ist nach finnischem Recht nicht möglich.

Auch Lettland und Tschechien unterstützen den Visa-Bann. Beide Länder beschränken schon seit Längerem die Einreise russischer Staatsbürger.

Weil die EU-Länder den Schengenraum teilen, es also zwischen den Staaten keine Grenzkontrollen gibt, werden Rufe nach einer einheitlichen europäischen Regelung laut. Auch deshalb hat Tschechien, das im Moment den Ratsvorsitz der EU innehat, das Thema auf die Tagesordnung beim EU-Außenministertreffen gesetzt.

Scholz und Macron blockieren

Doch Berlin und Paris halten wenig von dem Vorstoß. Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) warnte, ein genereller Visa-Bann für Russen würde auch "ganz Unschuldige" treffen. Am Montag bekräftigte er bei seinem Prag-Besuch, der Krieg sei von Russlands Präsident Wladimir Putin "angezettelt". Scholz spricht häufig von "Putins Krieg", nicht Russlands. Auch Frankreich lehnt einen Visa-Bann ab.

In einem gemeinsamen Positionspapier der beiden Länder vor dem Treffen heißt es: Man dürfe den Einfluss der Erfahrung eines Lebens in demokratischen Systemen nicht unterschätzen, insbesondere für zukünftige Generationen. So sollen weiterhin Kontakte zwischen EU-Bürgern und Russen möglich sein, die nicht mit der Führung in Moskau verbunden sind.

Auch Experten uneins

Die Frage spaltet nicht nur die EU, auch Experten sind sich in uneins. Vieles hängt von der konkreten Ausgestaltung der Regelung ab und davon, was mit einem Bann bezweckt werden soll. "Ich halte ihn nicht für sinnvoll", sagt der Rechtswissenschaftler Niels Petersen von der Universität Münster zu t-online. Es gehe bei der Einreise nicht nur um Urlaub, sondern auch um Familienbesuche, Auswanderung oder die Flucht vor Repression. Selbst wenn man dafür Ausnahmen schaffe, werde das die Möglichkeiten der Einreise deutlich erschweren.

Gleichzeitig habe man in der EU ein "starkes Interesse daran, weiterhin Kontakt mit liberalen Russen zu pflegen", so der Europarechtler. Auch wenn die öffentliche Unterstützung für den Krieg groß zu sein scheine, gebe es auch viele Russen, die ihn ablehnten. Für Petersen scheint die Forderung nach einem Visa-Bann deshalb eher "ein symbolischer Akt" zu sein als eine zielführende Maßnahme.

Putin, der lachende Dritte?

Auch Benjamin Tallis, Analyst für europäische Sicherheitspolitik, sieht darin eher Symbolpolitik – allerdings eine positive: Das Einreiseverbot wäre "ein deutliches Zeichen für die Entschlossenheit Europas, die Ukraine zu unterstützen und sich gegen den bösartigen Revanchismus Russlands zu stellen", schreibt er in einem Gastbeitrag für das österreichische Nachrichtenmagazin "Profil". Es sei ein Schritt, mit dem man "Engagement" im Sinne der Ukraine zeigen könne, so Tallis.

Marie Dumoulin von der Denkfabrik European Council on Foreign Relations befürchtet hingegen, ein Reiseverbot für Russen würde vor allem Putin in die Karten spielen. Die Forderungen nach einem EU-weiten Visa-Bann enthielten einen "gefährlichen Fehler in der Analyse", so die Expertin zu "Euractiv". "Indem es die Russen stigmatisiert, würde es die Propaganda des Kremls anheizen, der seit Jahren und insbesondere seit der Offensive in der Ukraine eine angebliche 'Russophobie' des Westens beklagt."

Darf die EU das überhaupt?

Auch aus rechtlicher Sicht gibt es offene Fragen, ob die EU einen generellen Bann überhaupt verhängen darf. Grundsätzlich liege es in der Kompetenz der EU, Fragen der Einreise zu regeln, sagt Rechtswissenschaftler Petersen zu t-online. Weil es faktisch keine Innengrenzen gebe, müsse man die Einreise an den Außengrenzen koordinieren. Auch die Grundrechte sieht er gewährleistet.

Andere jedoch sehen Probleme. Die Rechtswissenschaftlerin Sarah Ganty von der Yale Law School sieht ein kollektives Einreiseverbot durch geltendes EU-Recht nicht gedeckt. Ein pauschaler Visa-Stopp auf Grundlage der Staatsangehörigkeit würde dem Hauptgedanken widersprechen, dessentwegen das Visa-System im Schengenraum einmal geschaffen wurde: der individuellen Behandlung eines Einreiseantrags, schreibt sie in einem Fachforum.

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Was ist mit dem Recht auf Asyl?

Kritiker eines Visa-Stopps warnen auch vor den möglichen humanitären Folgen. Gerade weil Russland ein autoritärer Staat sei, sei es falsch, russischen Staatsbürgern die Einreise in Demokratien zu erschweren.

Zwar schlagen die Staaten, die einen Visa-Stopp fordern, Ausnahmeregelungen für Asylsuchende und Dissidenten vor – und in der Tat wird das Recht auf politisches Asyl durch einen Visa-Stopp nicht eingeschränkt. Dies ist durch die Genfer Konventionen wie durch EU-Recht weiterhin garantiert, so Jurist Petersen.

Doch er weist darauf hin, dass etwaige Reisebeschränkungen eine solche Flucht trotzdem erschweren könnten. Um Asyl beantragen zu können, müssten Oppositionelle und Dissidenten Zutritt zu europäischem Boden bekommen: "Das wird durch einen Visa-Stopp natürlich deutlich erschwert", so Petersen.

Wie realistisch ist eine EU-weite Regelung?

Grundsätzlich müssten alle EU-Staaten einem Stopp zustimmen. Da sich bereits jetzt mehrere Mitgliedstaaten explizit dagegen aussprechen, scheint ein genereller Visa-Stopp nicht möglich zu sein. Auch der Außenbeauftragte der EU, Josep Borrell, glaubt nicht daran, wie er am Sonntag im österreichischen Fernsehen bekannt gab. Wahrscheinlicher scheint daher, dass am Ende der Gespräche ein Kompromiss stehen könnte.

Einen solchen soll Tschechien tatsächlich eingebracht haben, so die Nachrichtenagentur AFP, die sich auf einen EU-Diplomaten bezieht: Die EU-Außenminister sollen prüfen, Einreiseerleichterungen für Russen auf Grundlage eines Abkommens von 2007 auszusetzen. Dies wäre kein vollständiges Einreiseverbot, würde die Visa-Ausstellung für Russen aber immerhin erschweren. Schon im Februar waren Teile des Vertrags außer Kraft gesetzt worden.

Das hat auch die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock am Dienstag vorgeschlagen. Dies könnte eine "ganz gute Brücke" sein, findet die Grünen-Politikerin, zwischen jenen, die gar keine Visa mehr vergeben wollen, und denjenigen, die weitermachen wollten wie bisher. Zu dem deutschen Vorschlag gehöre beispielsweise auch, nicht länger Mehrfachvisa mit einer Gültigkeitsdauer von mehreren Jahren auszustellen, so Baerbock. Zudem sollten besonders betroffene Länder Visumsanträge sehr genau prüfen können.

Aus deutscher Sicht müssten nicht nur Journalisten oder bekannte Oppositionelle, sondern zum Beispiel auch Studenten weiter die Möglichkeit haben, in die EU zu reisen, betonte Baerbock. Die kritische Zivilgesellschaft solle nicht bestraft werden.

Welche Einigung am Ende steht, ist also noch offen. Russland bringt sich allerdings im Falle einer Verschärfung bereits jetzt in Stellung. Kremlsprecher Dmitri Peskow sagt am Dienstag: "Das ist eine sehr schwerwiegende Entscheidung, die gegen unsere Bürger getroffen werden könnte, und eine solche Entscheidung kann nicht unbeantwortet bleiben."

Verwendete Quellen
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