Die subjektive Sicht des Autors auf das Thema. Niemand muss diese Meinung übernehmen, aber sie kann zum Nachdenken anregen.
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Guten Morgen, liebe Leserin, lieber Leser,
am Ende dieser Woche steht ein Jubiläum an, von dem man wünschte, es gäbe es nicht. Denn es ist ein Jubiläum der Schande. Sechs Monate und zugleich eine gefühlte Ewigkeit ist es am Sonntag her, dass Hamas-Terroristen im Süden Israels 1.200 Menschen abgeschlachtet haben. Vergewaltigungen, durchschnittene Kehlen, ermordete Babys, gefolterte Geiseln: Auf der Liste möglicher Grausamkeiten haben die Täter kaum etwas ausgelassen. Seither tobt der israelische Gegenangriff, der als Verteidigungsaktion zur Verhinderung künftiger Gräueltaten zunächst gerechtfertigt war, mittlerweile aber die Grenzen der Legitimität weit hinter sich gelassen hat.
Das Ausmaß des Tötens ist in der Geschichte keineswegs einmalig. Niemand muss uns Deutschen das erklären, denn beim Versuch der systematischen Auslöschung menschlichen Lebens halten wir noch immer den einsamen Rekord. Zu den deprimierenden Aspekten des Gemetzels erst in Israel und jetzt im Gazastreifen gehört der Umstand, dass das gnadenlose Verhalten für uns Menschen geradezu gattungstypisch zu sein scheint. Es gibt wiederkehrende Muster. Lassen sie sich überwinden?
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Spaltung, unüberwindliche Gräben, Polarisierung: Mit diesen Begriffen könnte man auch manche Gesellschaften oder das Verhalten vieler Zeitgenossen in den "sozialen Medien" beschreiben, nicht nur den Konflikt im Nahen Osten. Dort allerdings erleben wir die Mechanismen, die sich in harmloserer Form vielerorts beobachten lassen, in ihrer tödlichsten Variante. Wir müssen mitansehen, wie sich kleine radikalisierte Gruppen, die längst nicht die ganze israelische oder ganze palästinensische Gesellschaft repräsentieren, in ihrem Hass gegenseitig befruchten. Bewaffnete israelische Siedler attackieren Palästinenser, vertreiben diese von ihrem Land, verbreiten im Westjordanland Angst und Schrecken – und liefern zugleich palästinensischen Extremisten die vermeintliche Rechtfertigung für den nächsten Terroranschlag. Messerstecher mit islamistischen Parolen fallen über Israelis an Bushaltestellen her oder fahren mit dem Auto in eine Menschenmenge. Anschließend fühlen sich rechtsextreme Mitglieder des israelischen Kabinetts wiederum berufen, ihr rassistisches Gift in Mikrofone abzusondern und ihrerseits Israelis zu hemmungsloser Gewalt anzustacheln.
Der Irrsinn kennt keine Grenzen. Dass die Hamas sich der Auslöschung Israels verschrieben hat, sollte seit dem Massaker am 7. Oktober 2023 auch dem Letzten klargeworden sein. Und auf der anderen Seite? Ein israelischer Minister aus der radikalen Siedlerbewegung hat im November vorgeschlagen, Gaza mit einer Atombombe auszulöschen. Der Mann ist nach wie vor im Amt.
Die Extremisten profitieren voneinander. Sie zeigen auf ihr Gegenstück beim Feind, verweisen auf dessen abscheuliche Brutalität – und freuen sich über wachsende Unterstützung für ihre eigenen menschenverachtenden Positionen. Diese Symbiose befeuert den Konflikt zwischen Israelis und Palästinensern seit Jahrzehnten. Verhärtete Gegenpositionen schaffen einen bedauerlich stabilen Zustand. Man kommt nur schlecht wieder weg davon.
Warum ist das so? Warum bekommen die Propagandisten des Hasses immer wieder Aufwind? Weil Menschen zusammenstehen, wenn es kracht und gefährlich wird. Gegenseitiger Beistand und Solidarität: Das sind wohlklingende Worte, aber sie können toxisch wirken. Nationen, Ethnien, Religionsgruppen rücken angesichts einer Gefahr von außen zusammen – und gehen in dieser Formation auf andere los. Kollektiv verhalten wir Zweibeiner uns wie die steinzeitliche Horde vor der Höhle, die sich gegen die Typen drüben vor der anderen Höhle zusammenrottet. Man kann dieses Muster überall und zu allen Zeiten in der Menschheitsgeschichte beobachten. Es scheint in unseren Hirnen fest verdrahtet zu sein.
Israelis gegen Palästinenser, arabische Muslime und Christen gegen Juden: Die Auseinandersetzung wird fast immer aus dieser Perspektive betrachtet. Man merkt gar nicht mehr, wie absurd diese Unterteilung ist. Naheliegender wäre es eigentlich, von zwei anderen Lagern zu sprechen: Tätern und Betroffenen. Letztere zahlen mit ihrem Leben, leiden Hunger, leben in Angst. Der Großteil der Gesellschaft – nicht nur in den besetzten Gebieten und im Gazastreifen, sondern genauso in Israel – leidet unter dem Krieg und der anhaltenden Gewalt. Nur eine kleine Gruppe profitiert von ihm.
Extremisten schlagen aus dem Töten politisches Kapital. Die Kommandeure der Hamas können sich als Widerstandskämpfer gerieren. Dem israelischen Premier Benjamin Netanjahu nutzt der dauerhafte Ausnahmezustand, um sich an die Macht zu klammern. Die meisten anderen sind auf verschiedene Weise Opfer. Wer als Israeli zur falschen Zeit am falschen Ort ist, muss sterben. In Gaza gibt es sowieso keine richtigen Orte mehr; die Szenerie dort gleicht der Apokalypse. Babys gehen unter Qualen am Hungertod zugrunde. "Humanitäre Katastrophe" ist ein verharmlosender Begriff für den Horror, der sich dort abspielt und für den das israelische Kabinett die volle Verantwortung trägt: Täter im Anzug.
Hätte man einen Zauberstab und könnte mit einer magischen Formel den Schulterschluss der Betroffenen gegen die Täter heraufbeschwören, dann wäre der Krieg morgen vorbei. Nation und Glaubenszugehörigkeit – die vergifteten Schubladen, in die sich Menschen in Konflikten gewohnheitsmäßig einsortieren – sind aber leider nicht so leicht zu überwinden. Schließlich sind die Unterschiede augenfällig: Der Typ dort spricht Arabisch, ein anderer trägt eine Kippa. Die einen wohnen hüben, die anderen drüben. Das kann man gut auseinanderhalten. Feindbilder funktionieren dann, wenn man sie klar erkennen kann.
Die Profiteure der Gewalt sind hingegen voll in die Gesellschaft integriert. Sie verschmelzen mit der Menge, wenn man von der anderen Seite aus über den Zaun schaut. Die Hamas und die Verwaltung im Gazastreifen: Das waren zwei Seiten derselben Medaille, bis die israelische Offensive ganze Stadtviertel in Schutt und Asche legte. In Israel wiederum sind der Kriegstreiber Netanjahu und seine rechtsradikalen Minister durch Wahlen demokratisch legitimiert. Kein Wunder also, dass zwischen Israelis und Palästinensern der Schulterschluss der Durchschnittsmenschen ausbleibt – obwohl sie beide für die Karrieren der Täter die Zeche zahlen.
Gibt es keinen Weg aus der Sackgasse? Doch, aber er erfordert einen gravierenden Schritt: die Entmachtung der Radikalen auf beiden Seiten. Unter normalen Umständen müsste man dafür zum Zauberstab greifen. Doch tut sich, paradoxerweise als Folge der extremen Gewalt, möglicherweise gerade eine Chance auf. Die Hamas ist schwer getroffen, zumindest für eine Weile. Zugleich bewegt sich auch in Israel etwas: Die Proteste gegen Netanjahu nehmen zu. Der internationale Druck auf seine Regierung ist so groß wie nie zuvor. Ein Machtwechsel in Israel ist keine ausgemachte Sache, aber auch keine Utopie mehr.
Ein neues Kabinett könnte ein Zeichen der Verständigung senden, wenn es wagt, sich mit der Siedlerbewegung und den Radikalen in der eigenen Gesellschaft anzulegen. Ein entschlossener Kurswechsel und sofortige Hilfe aus Israel für die Menschen in den Gazastreifen-Trümmern könnte bewirken, dass das Signal der Verständigung dort ebenfalls ankommt. Vielleicht.
Gewiss, dafür muss man Optimist sein, denn auf beiden Seiten sitzen der Hass und die Verbitterung tief. Oje, da sind sie wieder: die beiden Seiten. Als säßen wir noch immer als Jagdgemeinschaft ums Feuer – wir hier, die anderen da drüben, jeder vor seiner Höhle mit Seitenblicken voller Misstrauen. So sind wir Menschen nun mal gestrickt, könnte man resigniert seufzen. Aber manchmal wachsen wir über uns hinaus.
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Also ehrlich, da stimmt was nicht!
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Ihr
Florian Harms
Chefredakteur t-online
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Mit Material von dpa.
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