t-online - Nachrichten für Deutschland
t-online - Nachrichten für Deutschland
Such IconE-Mail IconMenü Icon



HomePanoramaWissenGeschichte

Bericht aus Auschwitz: "Brot ins geschmolzene Menschenfett getaucht"


Bericht aus der Auschwitz-Hölle
"Brot ins geschmolzene Menschenfett getaucht"


Aktualisiert am 28.01.2025 - 07:33 UhrLesedauer: 7 Min.
Das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau: Eddy de Winds erschütternde Aufzeichnungen aus dem Herz der Dunkelheit sind sein Vermächtnis.Vergrößern des Bildes
Das Konzentrationslager Auschwitz-Birkenau: Eddy de Winds erschütternde Aufzeichnungen aus dem Herz der Dunkelheit sind sein Vermächtnis. (Quelle: O?ana Jaroslav/imago-images-bilder)
News folgen

Deportiert, zerrissen, vereint: die außergewöhnliche Liebesgeschichte eines Paares, das Auschwitz überlebte – und daran zerbrach.

Eddy de Wind erlebte das pure Grauen am eigenen Leib – und überlebte es. Im Jahr 1943 deportierten die Nationalsozialisten den jungen Arzt und seine geliebte Frau Friedel aus den Niederlanden ins Vernichtungslager Auschwitz. Dort begann für das Paar ein brutaler Überlebenskampf, geprägt vom täglichen Warten auf den Tod in Uniform.

Zwangsarbeit in bitterster Kälte, gnadenloser Hitze, quälender Hunger und die kaltblütige Willkür der Lageraufseher – so vergingen anderthalb Jahre. Als die Rote Armee anrückte, flohen die Nazis. Eddy und Friedel wurden auseinandergerissen. Doch beide überlebten allen Widerständen zum Trotz und fanden nach der Hölle von Auschwitz wieder zueinander.

Noch während er im Lager um sein Überleben kämpfte, schrieb Eddy de Wind seine Geschichte nieder. Seine erschütternden Aufzeichnungen, die in den Niederlanden bereits 1946 veröffentlicht wurden, sind einzigartig: Denn sie entstanden mitten im Vernichtungslager Auschwitz, inmitten des Grauens.

"An einen deutschen Sieg glaubte niemand"

Auf Deutsch erschien sein Bericht erst 75 Jahre nach der Befreiung von Auschwitz. Seine Erzählung beginnt im Frühling 1943, in einer Welt, die vom Krieg zerrissen war. Die Westalliierten hatten noch keinen Fuß auf das europäische Festland gesetzt, während die Deutschen in Russland noch auf ihr Kriegsglück vertrauten. In den Niederlanden war aber das Schicksal tausender Juden bereits besiegelt. In Übergangslagern ließen die Nazis ihnen die grausame Hoffnung, eines Tages wieder frei sein zu können. Und manche waren so "verblendet", dass sie in der Gefangenschaft sogar ein neues Leben begannen, eine neue Familie gründeten, notierte Eddy. Zu den Verblendeten zählte er auch sich selbst.

Im Lager Westerbork traf Eddy seine Friedel. Sie war gerade einmal 18 Jahre alt, eine junge Krankenschwester. Er, zehn Jahre älter als sie, war Lagerarzt. Inmitten des Schreckens wagten sie einen Schritt, der ihr Schicksal miteinander verknüpfte: Sie heirateten.

Ihre Liebe war ein stiller Widerstand, ein Versprechen aneinander, den Krieg zu überleben. "Denn irgendwann musste dieser Krieg doch einmal ein Ende haben. Und an einen deutschen Sieg glaubte niemand", notierte Eddy in seinen Aufzeichnungen.

Aus Eddy de Wind wurde Häftling 150822

Doch bis zur Freiheit lagen noch anderthalb Jahre unvorstellbares Leid. Am 13. September 1943 wurden Eddy und Friedel zusammen mit Hunderten anderen Juden in einen Zug gepfercht. Ziel: Auschwitz. Zu diesem Zeitpunkt war es für sie nur ein Wort, eine leere Hülle ohne Bedeutung – weder gut noch schlecht. Doch schon bald sollten sie am eigenen Leib erfahren, welche Abgründe dieser Ort barg.

Nach ihrer Ankunft rissen die Nazis das junge Paar auseinander. Aus Eddy de Wind, dem Arzt und Ehemann, wurde Häftling 150822. Die Nummer brannte sich nicht nur in seine Haut, als sie in seinen Unterarm tätowiert wurde, sondern auch in seine Seele ein. Für ihn selbst fanden die Nazis Verwendung im Tross des Stabsarztes. Friedel aber kam in den Block mit der Nummer 10. "Die dortigen Frauen sind Forschungsmaterial, wenn man so will", erklärte ihm ein mitgefangener Arzt.

Eddy de Wind verstand schnell, wie perfide die Hierarchie des Lagers aufgebaut war: "Als Erstes kamen die Reichsdeutschen dran. Sie waren zwar auch Häftlinge, nahmen aber in diesem Lager […] eine Sonderstellung ein. Auf die Deutschen folgten die Polen und andere 'Arier'. Zum Schluss waren die Juden an der Reihe", schrieb Eddy nieder.

"Eigentlich ist das eine Beleidigung für den Teufel"

Was folgte, war ein nie enden wollender Kreislauf aus Grausamkeit, Willkür und Verzweiflung. Jeder Tag war geprägt von brutalen Schikanen und entmenschlichender Gewalt, die durch die "nationalistische Moral" und den allgegenwärtigen Alkoholkonsum noch verstärkt wurde. Eddy beschrieb es mit schneidender Präzision: "Die nationalistische Moral und der unvermeidliche Alkohol verwandelten die Menschen in Teufel. Eigentlich ist das eine Beleidigung für den Teufel, denn der übt gerechte Rache, quält nur bei verdienter Strafe oder wenn er wie bei 'Faust' aufgrund eines Tauschvertrags dazu berechtigt ist. Der Nazi hingegen fällt ohne jede Rechtfertigung über wehrlose Opfer her."

Jeden Tag schuftete Eddy unter Schlägen und Hieben. Mal verlud er Leichen, mal zog er Waggons mit Baumaterial wie ein Lasttier. "Elf Stunden Kies aufladen, Kies fahren, Kies abladen", notierte er. Er arbeitete, bis "sein Rücken entzweizubrechen" drohte und die "Schaufel aus glühendem Eisen zu sein" schien. Am Ende des Tages fehlte ihm sogar die Kraft, seine magere Brotration hinunterzuwürgen.

Schläge. Gebrüll. Beschimpfungen. Erschöpfung und Schmerz. Mit der Zeit wurde der Schrecken Alltag. "Hat man sich erst ans Lagerleben gewöhnt, lässt es sich hier schon aushalten", erinnerte sich Eddy an die Worte eines Blockältesten. "Neunzig Prozent krepieren im ersten Jahr, aber wer das übersteht, schafft den Rest auch."

Das Grauen im Block 10

Eine Verlegung in den Krankenbau des Lagers erlöste Eddy nach einiger Zeit zumindest von der schweren körperlichen Arbeit. Und hier konnte er endlich Friedel wiedersehen. Ein paar Minuten am Fenster – das war alles, was ihnen vergönnt war. Aber es waren diese wenigen Augenblicke, die sie durchhalten ließen. Doch was geschieht mit den Frauen in Block 10? Gerüchte um seltsame Spritzen und Operationen verbreiteten sich im Lager. Nach diesen Eingriffen würden Frauen verbluten oder "von innen verbrennen", hieß es.

Am Stacheldrahtzaun flüsterte Friedel Eddy zu, was in ihrem Block geschah. Schockiert erzählte sie die Geschichte von zwei jungen Griechinnen. "Diese jungen Frauen wurden einem elektrischen Feld mit Ultraviolettstrahlung ausgesetzt – je eine Platte auf Bauch und Po –, das ihnen die Eierstöcke versengt hat. Sie bekamen außerdem schreckliche Wunden vom elektrischen Strom und hatten furchtbare Schmerzen. Hatten sie das überstanden, wurden sie operiert, um nachzuschauen, wie der Unterleib, vor allem aber die Eierstöcke, genau versengt wurden." Anderen wurde eine "weiße, zementartige Flüssigkeit eingespritzt", die sie sterilisieren sollte. Würde Friedel diesem Schicksal entkommen können?

"Unglückselige Lebende und glückliche Leichen"

Als die Rote Armee immer weiter nach Westen vorrückte, brach unter den Nazis Panik aus. Als die Front nur noch 150 Kilometer entfernt war, läutete der Gong zur Evakuierung. Die SS trieb alle zusammen, die laufen konnten und im Lager entbehrlich waren. Der Rest blieb in Auschwitz. Unter ihnen auch Eddy. Er versteckte sich unter den Kranken. Doch Friedel wurde auf einen Gewaltmarsch getrieben. Eddy blieb wie betäubt zurück. Zwei Jahre lang hatten sie gemeinsam gekämpft. Und trotz allem immer wieder zueinander gefunden. Aber jetzt?

In den Tagen nach der Flucht der SS erlebte Eddy eine seltsame Welt: In Auschwitz konnte man kommen und gehen, wie es einem beliebte. Keine einzige Wache war zurückgeblieben. Zusammen mit anderen Insassen traute sich Eddy bis nach Birkenau vor, wo viele Frauen zurückgelassen worden sein sollten. Doch auf das, was sie dort erwartete, war niemand vorbereitet. Als sie eine Baracke betraten, stockte ihnen der Atem, und die Beine verweigerten ihren Dienst. Vom Anblick des "Lagerhauses vollgestopft mit Menschen, die weder tot noch lebendig waren", wurde ihm schwindelig. "Unglückselige Lebende und glückliche Leichen", nannte er sie erschüttert in seinen Notizen.

Loading...
Loading...

"Brot ins geschmolzene, vorbeiströmende Menschenfett getaucht"

Überlebende aus dem sogenannten Sonderkommando berichteten Eddy schließlich von ihrer Arbeit in den Gaskammern, den Massengräbern, dem Verbrennen noch lebender Kinder, von den Grausamkeiten, die sie mit angesehen hatten. "Ich habe mit eigenen Augen gesehen, wie ein Mann, der bei diesen Scheiterhaufen gearbeitet hat, in die Rinne gestiegen ist und sein Brot ins geschmolzene, vorbeiströmende Menschenfett getaucht hat. Ist der Hunger groß genug ...", erzählte ihm ein überlebender Grieche.

Seine Friedel fand Eddy in Birkenau nicht. Als die Russen schließlich im Konzentrationslager ankamen und es befreiten, kam sich Eddy "unermesslich schlecht vor", weil er das Los der Toten nicht teilte. Seine Hoffnung, Friedel könnte noch am Leben sein, gab er auf. "Jetzt war er allein. Aber doch nicht ganz. Denn noch hatte er ihr Bild vor Augen und würde es stets vor sich haben; er würde Kraft daraus schöpfen für die Aufgabe, die ihm nun bevorstand", schrieb er über sich selbst. In diesen letzten Augenblicken in Auschwitz beschloss er, weiterzuleben, um allen davon zu erzählen, was dort geschehen ist.

Eddy kämpfte sich mühsam in ein neues Leben zurück. In den ersten Monaten arbeitete er für die russische Armee, folgte der Front und versorgte verletzte Soldaten. Als auch die Niederlande endlich befreit waren, machte er sich auf den Weg in die Heimat. Es wurde eine wahre Odyssee: durch Osteuropa, übers Mittelmeer – ein mühseliger und entbehrungsreicher Weg. Doch am 24. Juli 1945 erreichte er endlich die niederländische Grenze. Das Rote Kreuz nahm ihn in Empfang.

Und dann geschah das Unglaubliche. Mitarbeiter erzählten ihm, dass eine Frau mit seinem Nachnamen ganz in der Nähe in einem Krankenhaus liege. Noch am selben Tag stand Eddy an ihrem Bett. Nach all dem Leid, all den Verlusten waren Eddy und Friedel wieder vereint.

Die Liebe zerbrach am Frieden

Die Spuren von Auschwitz trugen Eddy und Friedel jedoch für immer mit sich. Eddy war schwer traumatisiert, Friedel nicht nur psychisch, sondern auch körperlich gezeichnet – sie war nun unfruchtbar. Trotzdem versuchten sie, ihr Leben wieder aufzubauen. Eddy widmete sich als Psychoanalytiker der Behandlung von Menschen mit Kriegstraumata und gründete eine eigene Praxis.

Doch die Narben des Erlebten waren stärker als ihre Liebe. Zwölf Jahre nach ihrer Rettung aus Auschwitz trennten sich Eddy und Friedel.

Mit seiner zweiten Frau fand Eddy jedoch neues Glück. Sie bekamen drei Kinder, und Eddy konnte beruflich große Erfolge feiern. Er blieb zwar traumatisiert und selbst therapiebedürftig, jedoch arbeitsam und erfolgreich und wurde ein gefragter Fachmann und Redner, auch auf seinem zweiten Spezialgebiet, dem der Sexualforschung. Er machte sich für Aufklärung und Verhütung in Schulen stark und gründete 1970 die unabhängige MR70-Stiftung für Abtreibung, heute Rutgers Stichting. Am 27. September 1987 verstarb Eddy de Wind im Alter von 71 Jahren an einem Herzinfarkt.

Verwendete Quellen
  • Eddy de Wind: "Ich blieb in Auschwitz – Aufzeichnungen eines Überlebenden 1943–45"
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...

ShoppingAnzeigen

Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Loading...
Neueste Artikel



Telekom