Vor Spaniens Küste Forscher rätseln über Orca-Angriffe auf Segler
Schwertwale haben einen schlechten Ruf, sind für den Menschen aber in der Regel ungefährlich. Umso überraschender sind die jüngsten Angriffe der Orcas auf Segler in Spanien.
Die Fassungslosigkeit stand dem alten Haudegen mit dem weißen Vollbart nach dem Zwischenfall noch lange ins Gesicht geschrieben. "So etwas hatte ich noch nie gesehen, und dabei bin ich schon seit 40 Jahren Seemann und habe einiges erlebt", erzählt Cándido Couselo Sánchez im Video. Der spanische Korvettenkapitän war am Steuer der "Mirfak", als der Marinesegler vor gut einem Monat, am 30. August, zwei Seemeilen vor der Küste der Region Galicien wie aus heiterem Himmel von Schwertwalen attackiert wurde.
Der Angriff wurde von der Crew auf Video festgehalten. Man hört die Schreie der verblüfften Seeleute: "Boah, was für ein Riesenvieh!" und "Er hat uns erwischt!" Nachdem die Tiere vom Boot ablassen, deutet jemand auf einen Punkt im Meer und sagt: "Da, die sind da geblieben und fressen unser Ruder! Sie fressen unser Ruder!"
Verbote für Segler
Die Überraschung war groß, denn die erfahrene Crew wusste: Die bis zu zehn Meter langen und bis zu sechs Tonnen schweren Orcas attackieren zwar andere Meeresgiganten und verspeisen neben Thunfischen, Heringen, Robben, Pinguinen und Seevögeln auch Delfine, andere Wale und sogar Haie. Weil ihr Verhalten von menschlichen Beobachtern teils als brutal interpretiert wird, wurden sie deshalb von Fischern "Killerwale" getauft. Auf Menschen oder Schiffe hatten es die Orcas – die der breiten Öffentlichkeit unter anderem von den "Free Willy"-Filmen bekannt sind – bisher aber nicht abgesehen.
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Denn vor dem Angriff auf die "Mirfak" hatte es im Juli und August bereits sechs Attacken an der Straße von Gibraltar, vier vor der Küste Portugals und dann auch eine vor der Küste Galiciens gegeben. Dann kam es im September vor der Nordwestküste Spaniens nach Berichten gleich zu mindestens 15 weiteren Zwischenfällen. Die Sequenz erscheint logisch: Schwertwale ziehen im Sommer von der Küste Andalusiens durch portugiesische Gewässer hinauf zum Biskaya-Golf – den Thunfischen hinterher.
Die Forscher rätseln und die Behörden handeln bereits. Denn die Lage ist ernst. Das Verkehrsministerium in Madrid verhängte schon vor einigen Tagen in den betroffenen Gewässern ein Segelverbot für Boote und Schiffe mit einer Länge von weniger als 15 Metern. Nach neuen Attacken wurde die Verbotszone ausgeweitet. Diese Maßnahme diene "dem Schutz der Menschen und auch der Orcas", hieß es dazu am Donnerstag. Tierschützer und Behörden befürchten nämlich, dass es zu Gegenangriffen von Bootscrews kommt.
Wollten sie "nur spielen"?
Das untypische Verhalten gibt Wissenschaftlern derweil Rätsel auf. Sie alle betonen, dass die Orcas gesellige Tiere seien, die wahrscheinlich "nur spielen" wollten. Wieso es aber plötzlich zu so vielen Zwischenfällen kommt, bei denen Schiffe und Boote so hart gerammt werden, bis sie oft das Ruder verlieren und nicht mehr manövrierfähig sind – dafür haben die Experten keine Erklärung.
Der spanische Seerettungsdienst und das Rote Kreuz mussten mehrfach ausrücken, um die Opfer zurück an Land zu schleppen. Die "Beautiful Dreamer" etwa, die von Teneriffa nach Southampton unterwegs war. "Wir wurden mindestens 15 Mal gerammt, unser Boot hat sich mehrfach gedreht", erzählte Kapitän Justin Crowther spanischen Medien.
"Die einzige klare Antwort, die wir geben können, ist, dass wir keinen blassen Schimmer haben, was da gerade vor sich geht", räumte Juan Antonio Romero von der Stiftung Fundación Oceanográfic im Interview des Online-Wissenschaftsmagazins "Hipertextual" unumwunden ein. Der Meeresbiologe, der Orcas studiert und mit diesen mehrfach unbehelligt getaucht ist, meint, es habe praktisch nie Angriffe von Orcas auf Menschen gegeben. "Weder im noch außerhalb des Wassers".
Keine vergleichbaren Berichte
Auch Expertin Elvira García vom spanischen Ministerium für den Ökologischen Übergang sprach dieser Tage von "sehr ungewöhnlichen" Zwischenfällen. Die Internationale Walfangkommission habe Madrid auf Anfrage bestätigt, dass es keine Informationen über ähnliche Ereignisse in der Vergangenheit gebe. Spaniens Regierung kündigte Ermittlungen an und schickte bereits erste Erkundungsflugzeuge los.
Inmitten der Sorgen und des Rätselratens meldete sich der Fachmann Víctor Hernández mit einer ungewöhnlichen Theorie zu Wort. Er sagte, die Orcas seien auf einer Art "Rachefeldzug". Eine von Orcabulle "Pingu" angeführte Gruppe von bis zu dreizehn Tieren attackiere Schiffe, weil sie Vergeltung für einen Angriff im Juli an der Straße von Gibraltar übe, bei dem zwei Weibchen unter anderem durch Harpunenschüsse verletzt worden seien. "Fischer und die Besatzung von Walbeobachtungsschiffen, die die Tiere sehr gut kennen, haben die verletzten Orcas gesehen und mir davon erzählt", sagte der Forscher, Umweltschützer und mehrfach ausgezeichnete Buchautor der Deutschen Presse-Agentur.
Er glaube nicht, dass es nun zu einem Teufelskreis von gegenseitigen Angriffen kommt." Man müsse dazu aber "jede Panikmache verhindern", die Orcas als gefährliche Tiere hinstelle. Die Gruppe um "Pingu" werde die Angriffe mit den Harpunen irgendwann vergessen und sich wieder "normal" verhalten.
Die auf Meeressäuger spezialisierte Biologin María del Carmen Rodríguez hat eine andere Vermutung. Ihrer Ansicht nach könnte das ungewöhnliche Verhalten der Tiere eine Folge der Corona-Pandemie sein. Dem spanischen Radiosender Cope sagte sie: "Die Tiere hatten sich vielleicht an die Ruhe gewöhnt, die der monatelange Lockdown bei uns auch den Meeren gebracht hatte. Als es im Sommer dann plötzlich wegen des wieder zunehmenden Schiffsverkehrs wieder deutlich lauter wurde, hat der Lärm die Tiere vielleicht gestresst und aufgebracht. Das könnte die Erklärung für diese ungewöhnliche Aggressivität sein, denn das Verhalten der vergangenen Wochen ist sehr rätselhaft."
- Nachrichtenagentur dpa