Tierschützer alarmiert Türkei will wohl Tausende Hunde einschläfern lassen
Herrenlose Hunde gehören in der Türkei zum Straßenbild. Doch immer wieder werden auch Menschen durch Hunde verletzt. Die Regierung will die Straßentiere loswerden – mit einer umstrittenen Methode.
Wenn die türkische Metropole Istanbul ein inoffizielles Maskottchen hat, dann ist es sicher der Straßenhund "Boji". International bekanntgeworden ist "Boji" vor drei Jahren, weil er täglich im Istanbuler Nahverkehr gesichtet wurde. Straßenbahn, Bus und Fähre – bis zu 30 Kilometer täglich legte der Hund so zurück, wie die Istanbuler Stadtverwaltung mit einem GPS-Halsband feststellte. Für "Boji" gab es ein Happy End, ein bekannter Geschäftsmann adoptierte den Mischling schlussendlich. Doch sollte eine von der islamisch-konservativen AKP geplante Gesetzesänderung beschlossen werden, droht Straßenhunden mit weniger Glück der schnelle Tod.
Der Entwurf ist nicht öffentlich, doch seit Details an die Medien durchgesickert sind, schlagen Tierschützer Alarm. Der Sender NTV berichtete, geplant sei, dass Tierheime auch kerngesunde Hunde künftig einschläfern sollen, wenn sie nach 30 Tagen nicht an einen Besitzer vermittelt werden konnten. Weitere Straßenhunde sollen eingesammelt und dann genauso verfahren werden. Dazu wäre eine Änderung des türkischen Tierschutzgesetzes nötig, das die AKP selbst 2004 verabschiedet hatte. Das Gesetz soll das Tierwohl sichern und verbietet bis auf wenige Ausnahmefälle wie Krankheit das Töten von Straßentieren.
Tierärzte rebellieren und verweigern Umsetzung
Die türkische Tierärztevereinigung erklärte, dass der Plan nicht mit ihrem Berufsethos vereinbar sei und sie sich als Veterinäre weigerten, das Einschläfern durchzuführen. "Die Euthanasie kann nur von einem Tierarzt durchgeführt werden und diese an gesunden Tieren anzuwenden, ist gleichbedeutend mit einem Massaker."
Nach Schätzungen des Umweltministeriums gibt es in der Türkei etwa vier Millionen Straßenhunde. Anwohner in der Istanbuler Innenstadt kümmern sich teils liebevoll um herrenlose Katzen und Hunde, manche erhalten sogar Kosenamen. Doch immer wieder werden vor allem Kinder durch Straßenhunde verletzt. Präsident Recep Tayyip Erdogan machte kürzlich auf den Fall des zehnjährigen Tunahan aufmerksam, der Berichten zufolge Anfang Dezember in der Hauptstadt Ankara von zwei Straßenhunden angegriffen und schwer verletzt worden war. Das Problem der herrenlosen Hunde betreffe die "Sicherheit des Volkes", so Erdogan. In ländlichen Regionen und Waldstücken bilden die Tiere oft Rudel, immer wieder berichten Anwohner, dass sie sich wegen der Hunde nicht in bestimmte Regionen trauen.
Uneinigkeit über Methode zur Senkung der Population
So besteht über die Parteienlandschaft hinweg Einigkeit darüber, dass die Population der Straßenhunde gesenkt werden müsse, aber Uneinigkeit darüber wie. Die AKP will ihren Entwurf angesichts des "sensiblen" Themas auf Anfrage der dpa zurzeit nicht kommentieren. Befürworter verweisen in der Regel darauf, dass etwa auch in Großbritannien das Töten von streunenden Hunden nach einer siebentägigen Verwahrfrist erlaubt ist. Deutschland lehnt die Euthanasie von gesunden Tieren dagegen strikt ab.
Oppositionschef Özgür Özel von der Mitte-Links Partei CHP ist gegen das Vorhaben der Regierung und sagt, diese sei entweder unwissend oder gewissenlos. Die CHP hatte bei den Kommunalwahlen Ende März die meisten Gemeinden im Land gewonnen und müsste ein solches Gesetz möglicherweise umsetzen. Özel fordert stattdessen konsequentes Kastrieren und den Ausbau der Tierheim-Infrastruktur.
Konsequente Kastration als bewährte Methode
Tierschützern zufolge lässt sich die Straßentierproblematik nachhaltig nur durch Einfangen, gezielte Kastrierung, Impfung und wieder Aussetzung in das Herkunftsgebiet lösen. Das sei wissenschaftlich erwiesen und zeige die Praxis etwa bei Modellprojekten in Rumänien, sagt Luca Secker, Referentin beim Deutschen Tierschutzbund, der Deutschen Presse-Agentur.
Dieses Vorgehen ist jetzt schon im türkischen Gesetz vorgesehen. Doch an der Umsetzung mangelt es, wie Tierschützer einheitlich beklagen. Als Konsequenz daraus habe die Population der Straßentiere zugenommen.
Die Population werde weder mit Töten noch Einsammeln reduziert, das habe die Vergangenheit gezeigt, sagte der Vorsitzende der Tierschutzorganisation Haytap, Ahmet Kemal Senpolat, der dpa. Auch Secker kritisiert, die Euthanasie von gesunden Hunden sei massiv tierschutzwidrig und sorge darüber hinaus nicht für eine nachhaltige Verminderung der Population. Wenn man Tiere entnehme, dann stünden den verbleibenden Tieren auf der Straße mehr Ressourcen wie Unterschlupf, Wasser und Essen zur Verfügung, erklärt sie. Die Lücke werde also schnell wieder geschlossen. Es sei zudem unrealistisch, dass man alle Tiere auf einmal fangen könne, sodass immer wieder neue Tiere dazukommen.
Mangelnde Umsetzung von Tierschutzgesetz
Mit der Kastration und gut geplanten Futterstellen würden auch Ursachen für Aggression genommen. Flankierend seien weitere Maßnahmen nötig, um die Population zu verringern. So müsse das Aussetzen von Haustieren angegangen werden, sagt Secker. "Das ist die Hauptquelle von Straßentieren." In der Türkei werden Hunde gerade in Urlaubsregionen in der Ferienzeit oft ausgesetzt. Haytap-Chef Senpolat fordert zudem ein konsequenteres Vorgehen gegen illegalen Handel mit Hunden und die Schließung von Tierhandlungen. Dass es in Deutschland keine Straßenhunde gebe, habe auch mit der guten Infrastruktur von Tierheimen zu tun, die sich um Tiere in Not kümmerten, sagt Secker.
Seit einer Gesetzesänderung 2021 sind auch in der Türkei Gemeinden ab einer gewissen Größe dazu verpflichtet, ein Tierheim zu betreiben. Wenn sie das nicht umsetzten, würden die Gemeinden aber nicht sanktioniert, kritisiert Senpolat. Es gebe etwa 1.200 solcher Gemeinden im Land, von denen schätzungsweise nur 200 Tierheime betrieben. In nur etwa zehn Prozent der Heime würden die Tiere artgerecht gehalten, in den anderen seien die Zustände verheerend.
Auch die Rehabilitation aggressiver Hunde ist im türkischen Gesetz bereits vorgesehen. Doch der Alltag in türkischen Tierheimen sieht anders aus. Hunde werden oft in zu engen Käfigen zusammengerottet oder angekettet. Gerade aus Anatolien gibt es immer wieder Berichte darüber, dass Hunde misshandelt werden oder durch Futtermangel verhungern. Viele Heime sind auf Spenden angewiesen. Angesichts der massiven Inflation im Land sei die Bereitschaft dazu zurückgegangen, wie Mitarbeiter berichten.
Angst vor grausamen Tötungsmethoden
Angesichts der Zustände in den Tierheimen und der mit der Euthanasie verbundenen Kosten fürchtet Senpolat, dass die Hunde in der Praxis grausam getötet, etwa erschossen oder bei lebendigem Leibe begraben werden.
Die Sorge, dass die Tiere nicht schmerzfrei eingeschläfert werden, teilt Secker. Das zeigten Erfahrungen aus anderen Ländern. Im ukrainischen Odessa etwa seien früher Tiere vergast oder erschlagen worden, in Russland gebe es Beispiele von Verbrennung. "Was auch passiert, ist das Ausbleiben der Versorgung in den Tierheimen, die verdursten oder fressen sich gegenseitig. Wir sehen bei dem Töten in diversen Ländern, dass an allen Ecken und Kanten gespart wird, auch an der Euthanasiemethode."
Man dürfe nicht unterschätzen, wie teuer auf Dauer die Infrastruktur zum Töten sei. Hinzu komme, dass die Einfangmethoden oft inhuman seien und sich dadurch neue Geschäftsmodelle entwickelten, wie die von bezahlten Hundefängern oder Unternehmen, die die Tierkörper beseitigten. Es bestehe zudem die Gefahr, dass Straßenhunde nicht mehr geimpft werden, warnt Secker. Bei der Kastration dagegen würden Tiere auch geimpft, es entstehe eine Herdenimmunität der Straßenhundepopulation. Das schütze die Bevölkerung etwa vor Tollwut, die in der Türkei noch verbreitet ist.
Medien: Präsidentengattin schaltet sich ein
Ob der umstrittene Vorschlag noch entschärft wird, ist derweil ungewiss. Zuletzt hieß es in türkischen Medien, Emine Erdogan, die Ehefrau des Präsidenten, habe sich an dem Vorhaben gestört und interveniert. Die Regierungspartei AKP diskutiere zurzeit parteiintern weiter. Der Fraktionsvorsitzende Abdullah Güler wiegelte bereits ab und sagte, man habe kein Problem mit Hunden, die Teil des Viertels sind und von den Anwohnern "Kamille" oder ähnlich getauft wurden, sondern mit "aggressiven" Straßenhunden.
Auch Erdogan schien zuletzt beschwichtigen zu wollen und sagte, man wolle mit der Änderung des Gesetzes die Vermittlung herrenloser Hunde fördern. "Wir möchten, dass alle Tiere, die in Tierheime aufgenommen werden, adoptiert werden", sagte er. Dann sei der nächste Schritt gar nicht nötig.
Die Aussichten auf Vermittlung von Straßenhunden sind allerdings düster. Alleine das Tierheim Yedikule in Istanbul versorgt nach deren Angaben zurzeit rund 3.000 Hunde. Nach Angaben der Stadtverwaltung wurden im Jahr 2023 aber nur 831 Straßentiere – ohne Aufschlüsselung nach Tierart – in ganz Istanbul vermittelt. Auch ein Blick auf die Portale der Tierheime zeigt, dass viele Hunde schon weit länger als 30 Tage auf Vermittlung warten. So etwa "Chef" dessen Name zur massiven Statur passt, der aber wohl eher ein sanftes Wesen hat. Er liebe Kekse und Kinder, heißt es auf der Website des Tierheims und – er schnarche. Gesucht ist – seit Mitte April – ein Zuhause mit Garten.
- Nachrichtenagentur dpa