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Zum journalistischen Leitbild von t-online.Shanghai im Lockdown "Wir sind entsetzt über die Sinnlosigkeit"
Der Lockdown in Shanghai scheint zu einer humanitären Katastrophe zu führen: In der chinesischen Millionenstadt fehlt es an Wasser, Essen, Strom. Augenzeugen berichten von dramatischen Szenen.
Jeden Morgen fragt Thomas M. seine Mitarbeiter, wie es ihnen zu Hause geht. Diesen Sonntag fühlte er sich besonders hilflos. Mitten in der Nacht brach ein Feuer im Wohngebäude seines Angestellten aus. Der Ausgang war aufgrund des Lockdowns von den Behörden verriegelt worden. Die Feuerwehr konnte zunächst nur schwer durchkommen. "Zum Glück ist niemand verletzt worden", sagt der Leiter eines mittelständischen Unternehmens in Shanghai, der seit über vier Wochen in seinem Wohnkomplex eingesperrt ist. Sein Name wurde geändert, weil er anonym bleiben möchte.
Das Feuer und die verriegelte Tür sind kein Einzelfall. In der Millionenmetropole Shanghai wird seit über vier Wochen ein strenger Lockdown der Regierung in vielen Teilen der Stadt immer mehr verschärft. Ohne Rücksicht auf die Menschen, die ihn durchstehen müssen. Es gibt zahlreiche Berichte von Nahrungsmittelknappheit, schlechter Hygiene in Quarantänezentren, Absperrungen, Bränden und sogar Suizidversuchen.
"Seit ein paar Tagen stellen die Nachbarschaftskomitees überall Zäune und Absperrungen vor den Häusern auf", erzählen Thomas und Claudia M. am Telefon. Seit Freitag befinden sich Teile Shanghais mit erhöhten Covid-Fallzahlen in einem "harten Lockdown".
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Dazu zählt der alte Teil der Stadt, in dem viele der zahlreichen Wanderarbeiter und Dienstleister leben. Vor dem Lockdown waren sie den gesamten Tag unterwegs und lieferten Essen, Einkäufe und andere Dinge in der Stadt aus.
Viele können ihre Miete nicht zahlen
"Die Menschen waren noch nie so lange am Stück zu Hause. Die Gebäude sind marode, die Stromversorgung ist vollkommen überlastet", berichtet Thomas M. Auch deswegen brechen in einigen Gebäuden Feuer aus. Die Menschen teilen sich Bäder, es gibt keine Küchen, denn sie essen gewöhnlich draußen in Straßenküchen. Nun schickt die Regierung ihnen Essenspakete mit Kohl, rohem Fleisch und Eiern, doch die Menschen können nichts davon zubereiten. Viele ältere Bewohner wissen nicht, wie man mit dem Handy online Essen bestellt, die Lieferdienste sind nur knapp besetzt. Die meisten dieser Menschen, die in der sogenannten Gig-Economy arbeiten, verdienen kein Geld, wenn sie nicht draußen sind, um zu arbeiten. Viele können ihre Miete nicht zahlen und sind verzweifelt.
"Wir haben Aufnahmen gesehen von Bannern, die aus den Fenstern gehängt werden. Auf ihnen steht, wer in den Gebäuden aufgrund des Lockdowns verhungert oder aus anderen Gründen gestorben ist", sagt Ehepaar M. Diese Aufnahmen können nicht verifiziert werden. Doch sie werden, genau wie andere Zeugnisse des Protests, sofort vom Zensurapparat der Regierung gelöscht.
"Ich habe weder Essen noch Wasser"
Am Freitag verbreitete sich auf den chinesischen Social-Media-Plattformen ein sechsminütiges Video namens "Shanghais Stimmen des April". Darauf sieht man die Stadt aus der Vogelperspektive. Zu trauriger Musik werden mutmaßlich mitgeschnittene Telefongespräche und Audioaufnahmen abgespielt. "Ich habe weder Essen noch Wasser", klagt ein Mann. "Seit acht Uhr früh wird mein kranker Vater von allen Kliniken abgewiesen", ein anderer. Das Video wird von der Regierung gelöscht, doch an anderer Stelle wieder hochgeladen. Die Behörden kommen mit der Beseitigung der vielen kritischen Beiträge nicht hinterher. Seit Wochen beschweren sich Menschen, sie hätten nicht genug zu essen, würden medizinisch nicht versorgt. Es ist der größte Onlineprotest, seitdem der chinesische Whistleblower Li Wenliang zu Beginn der Pandemie verstarb.
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Insgesamt 400.000 Fälle wurden seit dem Ausbruch Anfang April in Shanghai verzeichnet. Die Dunkelziffer dürfte allerdings höher liegen. Bis Mitte des Monats stand die gesamte 25-Millionen-Stadt unter einem strengen Lockdown. Niemand durfte sein Zuhause verlassen. Nun ist die Stadt in drei Farben geteilt: rot, gelb und grün. Thomas M. und seine Frau leben in einer gelben Zone, das heißt, sie können sich in ihrem Wohnkomplex frei bewegen.
Berichte über vermehrte Suizide
Ein deutscher Jurist, der mit t-online in Kontakt steht, darf seit einem Tag nicht mehr aus dem Haus, weil es einen positiven Fall in seiner Umgebung gab. Am Wochenende machte er eine erschreckende Beobachtung: "Gestern ist ein Mann mittleren Alters im Nachbargebäude vom Dach gesprungen. Wir konnten den Sprung aus 100 Meter Luftlinie Entfernung beobachten. Es ist der vierte Selbstmord seit Anfang April in unserem Umfeld und Bekanntenkreis in Shanghai", sagt er.
Auch im Internet kursieren Videos von Menschen, die augenscheinlich aus Verzweiflung von Dächern und aus den Fenstern springen. Bestätigt sind diese Aufnahmen nicht. Es gibt keine offiziellen Zahlen dazu. Bis vor Kurzem veröffentlichte die Regierung nicht einmal offizielle Todeszahlen. Dies hat sich nun geändert. Am Sonntag wurde ein Höchststand von 39 Covid-Todesfällen gemeldet. Fast alle waren ältere, ungeimpfte Menschen mit Vorerkrankungen. Doch die Menschen, die sterben, weil sie medizinisch nicht versorgt werden oder sich das Leben nehmen, tauchen in dieser Statistik nicht auf. Dabei berichten selbst chinesische Medien über einen steigenden Bedarf an psychologischer Hilfe. Eine groß angelegte chinesische Umfrage ergab bereits 2020, dass sich fast 35 Prozent der Befragten zum Höhepunkt der Pandemie psychisch belastet fühlten.
Ende des Lockdowns nicht in Sicht
Ein Ende der strengen Maßnahmen ist vor allem in Bezirken mit hohen Fallzahlen vorerst nicht in Sicht, obwohl die Gesamtfallzahlen am Sonntag um zehn Prozent zum Vortag sanken. Nicht nur Zäune und Gitter, sondern auch elektronische Türalarme werden an den Häusern angebracht, um zu verhindern, dass Infizierte hinausgehen. Derzeit werden ganze Stadtteile evakuiert, die leeren Wohnungen werden dann desinfiziert. Eine offizielle Mitteilung örtlicher Beamter der Kommunistischen Partei in einem Gebiet im Norden der Stadt enthalte Anweisungen, die Bewohner in mehr als 160 Kilometer entfernte Quarantäneeinrichtungen zu bringen, berichtet die BBC.
Menschen, die positiv getestet werden, und ihre Kontaktpersonen werden in eines der vielen neuen Quarantänezentren gebracht. Dort herrschen zum Teil schlechte hygienische Bedingungen. Zu Beginn des Ausbruchs wurden Eltern von ihren Kindern getrennt, Haustiere, deren Besitzer in Quarantäne saßen, auf offener Straße erschlagen. Diese Maßnahmen wurden nach einem öffentlichen Aufschrei fallen gelassen.
Auch in Peking fürchten sich die Menschen vor einem Lockdown. Seit am Sonntag 22 Neuinfektionen registriert wurden, sind die Supermarktregale an vielen Stellen leer gekauft. Es herrscht ein Gefühl der Machtlosigkeit. "Wir sind entsetzt über die Sinnlosigkeit. Es ist eine humanitäre Katastrophe", sagt das deutsche Ehepaar, das Shanghai eigentlich liebt, aber nun, wie so viele Ausländer, überlegt, das Land zu verlassen.
- Eigene Recherche
- Sixth Tone: Shanghai Sees Rise in Mental Health Issues Amid COVID-19 Surge (englisch)